Der Feuerstein
Routine. Ximena bringt mir ein Glas gekühlten Wein und
eine Kerze für meinen Nachttisch, dann löst sie mein geflochtenes Haar, während ich dasitze und aus der Scriptura Sancta vorlese. Der lyrische Klang der Sprache, die beruhigende Wahrheit der Worte sorgen meist schnell dafür, dass ich die nötige Traumschwere finde. Aber heute ist das anders. Die geschwungene Schrift verschwimmt auf dem Blatt und verwandelt sich in dunkle, neugierige Augen. In Alejandros Augen. Ich erinnere mich, wie er mich während der Ratssitzung angesehen hat, wie sich die Falten in seinem Gesicht glätteten, als er seinen Blick auf mir ruhen ließ. Auch Ariña ist das aufgefallen.
Ich klappe die Scriptura zu. »Ximena.«
»Ja, mein Himmel?«
»Ich möchte … hübsch aussehen. Heute Nacht.«
Im Spiegel erhasche ich den Hauch eines Lächelns. »Meinst du, er wird dich besuchen kommen?«
»Vielleicht.« Ich glaube wirklich, dass er das tun wird. Aber ich habe Angst davor, es auszusprechen, als ob es ein schlechtes Omen sei und dann doch nicht passieren wird, und mir wäre es schrecklich peinlich, wenn Ximena wüsste, wie enttäuscht ich dann wäre.
»Nun, dann einfach nur für den Fall.« Ihr Daumen fährt zärtlich über mein Kinn.
Nachdem mir Ximena die Zöpfe gelöst hat, fällt mein Haar in Wellen bis über meine Taille herab. Ximena kämmt einige Strähnen von der Stirn nach hinten und steckt sie mit einem Perlenkamm fest. Dadurch sieht mein Gesicht länger und schmaler aus, und meine Augen fallen stärker auf. Meine Kinderfrau tupft mir ein wenig Karmesin auf die Lippen. Dann nimmt sie den Kajal zur Hand, legt ihn aber gleich
wieder beiseite. »Das ist nicht nötig«, brummt sie. Ich weiß nicht, ob ich nicht doch anderer Meinung bin.
Dann hilft mir Ximena, das Nachtkleid überzustreifen. Sie wählt eines aus beigefarbener Seide, das meine Haut schimmern lässt und meine braunen Augen betont. Eine Weile stehe ich vor dem Spiegel und sehe mich an, halb zufrieden, halb entsetzt. Ich werde niemals so zierlich, so hellhäutig und schön sein wie Ariña. Selbst jetzt, da ich mich so gerade wie möglich aufrichte, zeichnen sich meine Brüste und mein Bauch breit unter dem Stoff ab. Aber meine dunkle Haut ist ungewöhnlich, macht mich besonders, und mein Haar glänzt.
Hier steht Lucero-Elisa, sage ich mir. Die Trägerin des Feuersteins.
Ximena löst die Schnürung meines Ausschnitts ein klein wenig, gerade genug, um mein Dekolleté in Szene zu setzen. Dann steige ich in mein riesiges Bett, und sie zupft die Decken um mich zurecht, drapiert mein Haar über meinen Schultern und reicht mir die Scriptura, damit ich so tun kann, als würde ich lesen, während ich darauf warte, dass Alejandro klopft.
Ich warte sehr lange, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich komme mir albern vor, und ich bin froh, dass Cosmé nicht auch abends hier ist und nur Ximena weiß, dass ich mich extra schön gemacht habe. Nach einer Weile höre ich mit dem Lesen auf und fange an zu beten, und der Feuerstein schickt mir als Antwort sanft massierende, warme Strahlen. Ich döse ein.
Er klopft.
Verwirrt schrecke ich hoch. Die Kerze ist zur Hälfte heruntergebrannt, und ein Tropfen Wachs ist auf meinem Nachttisch
erstarrt. Nach dem zweiten Klopfen rufe ich ihn herein. Als sich die Klinke bewegt, fürchte ich zunächst, ich könnte eingetrockneten Speichel auf der Wange haben oder mein Nachthemd sei zu tief heruntergerutscht, aber das ist alles vergessen, als ich sein Gesicht sehe.
»Ich hoffe, ich komme nicht zu spät«, flüstert er. »General Luz-Manuel hat mich fast den ganzen Tag aufgehalten.«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe nur …« Die Scriptura Sancta liegt aufgeklappt beiseitegeschoben am Rand des Bettes, und unwillkürlich muss ich kichern. »Ich bin wohl beim Lesen eingeschlafen.«
Alejandro setzt sich neben mich aufs Bett. Er ist so groß, dass er keine Fußbank zum Hinaufsteigen braucht. »Warst du schon immer so fromm?«
Ich antworte mit einem Achselzucken. »Die heiligen Texte habe ich schon studiert, als ich noch klein war.« Alle, abgesehen von Homers Afflatus natürlich. »Das erschien irgendwie erforderlich, da ich ja nun einmal den Feuerstein trage.« Und dennoch hat es nicht gereicht. Gott ist mir unergründlich geblieben, und ich fühle mich der Erfüllung meiner göttlichen Aufgabe heute nicht näher als an dem Tag vor sechzehn Jahren, als er dieses Ding in meinem Bauchnabel verankerte.
Alejandro beugt sich vor und
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