Der Feuerstein
Eine Erkenntnis dämmert mir: Der Sand hat uns unter sich begraben.
Unmittelbar darauf setzt das Wüten des Sturms wieder ein, gefolgt von neuerlicher, beunruhigender Stille. Der schreckliche
Nachmittag zieht sich in Dunkelheit dahin, während wir mehrere Male begraben, wieder freigeblasen und erneut mit Sand bedeckt werden. Noch erschreckender ist das sichere Wissen, dass der Sturm nun endgültig all unsere Spuren verwischt haben wird und es damit keine Möglichkeit mehr gibt, dass Alejandro mich je findet.
Dann endlich ist die Stille von Dauer. Aus der Mitte der Dunkelheit sagt Cosmé: »Jetzt kannst du es versuchen, Belén.«
Ich höre ein Rascheln und das Aneinanderreiben von Stoff, und dann brechen Sand und Licht durch ein Loch über uns. Blinzelnd sehe ich den Mann mit der Hakennase, der mit einer langen Stange nach oben stößt. Durch das Loch erkenne ich blauen, herrlichen Himmel. Ich lege meine Fingerspitzen auf den Feuerstein und konzentriere mich auf ein Dankesgebet.
Cosmé und Belén graben uns aus unserem Zelt. Die äußere Stoffschicht ist teilweise eingerissen, aber Humberto meint, dass sie sich noch reparieren lässt und trotzdem halten wird. Die Kamele waren nur zur Hälfte von Sand verschüttet. Wir knien uns hin und schaufeln den Sand beiseite, bis wir den schweren Stoff über ihnen wegziehen können. Schnaufend und klagend erheben sich die Tiere und schütteln die Köpfe. Das größere, ein Kamel von so dunklem Braun, dass es fast schwarz wirkt, beginnt mit dem Wiederkäuen, das Lohfarbene scharrt mit den Hufen. Sie verhalten sich genauso, wie Kamele es meiner bisherigen Erfahrung nach immer tun, und ich staune darüber, wie gleichmütig sie hinnehmen, was gerade geschehen ist.
Als wir die Zelte ausgegraben und wieder vernünftig aufgestellt haben, steht die Sonne schon tief und lässt einen
kupferfarbenen Schimmer über die neu entstandenen Dünen wandern.
An diesem Abend können wir das Feuer dank eines frischen Vorrats an Kameldung länger brennen lassen. Während unserer kargen Mahlzeit, die wieder aus Jerboa-Suppe besteht, frage ich: »Sind Sandstürme immer so?«
Humberto hat den Mund voll Suppe, daher antwortet diesmal Belén: »Im Jahr bekommen wir meist ein oder zwei richtig schlimme so wie diesen hier. Normalerweise sind sie weniger heftig und schnell vorüber.«
Ich schlürfe meine Suppe und fürchte jetzt schon den Augenblick, an dem meine Schale leer sein wird. Die Augen meiner Begleiter sind abschätzend auf mich gerichtet. Cosmés Blick genüge ich nicht, das zeigt der verächtliche Zug um die Lippen, den der Feuerschein offenbart. Ah, aber die anderen … Ihre Augen sind voller Fragen, und vielleicht liegt sogar zögerlicher Respekt in ihnen. Selbst der stille Junge betrachtet mich aufmerksam. Ich habe eine Ahnung, wie Alodia jetzt vorginge.
»Ihr alle wusstet genau, was zu tun ist«, sage ich. »Um zu überleben.«
Humberto zuckt mit den Schultern. »Wir sind Karawanenführer. Das ist unsere Aufgabe.«
Cosmé ist Zofe, keine Karawanenführerin, aber es ist nicht der rechte Augenblick für Haarspaltereien. Ich nicke, als sei ich tief in Gedanken. »Die Wüste bringt starke Menschen hervor.« Dabei hoffe ich, dass meine Worte nicht kriecherisch klingen.
Belén hebt stolz den Kopf. »Wir haben Schlimmeres überstanden als Sandstürme.«
»Daran zweifle ich nicht.« Sorgsam kratze ich die letzten Suppenreste zusammen, dann lecke ich mir die Finger ab. Als ich die Schüssel dann absetze, sage ich: »Aber etwas anderes kommt auf euch zu. Oder ist schon da. Etwas, von dem ihr nicht sicher seid, dass ihr es überstehen werdet.«
Keiner sieht mich an. Cosmé überkreuzt die Beine und betrachtet ihre Fingerknöchel.
Schließlich wage ich es, die nächste Frage zu stellen: »Was ist es? Wieso schleppt ihr ein dickes, nutzloses Mädchen durch die Wüste? Wieso bin ich so wichtig, dass ihr Humberto trotz des drohenden Sandsturms zurückgeschickt habt, um mich zu holen?«
»Humberto sollte nicht dich holen«, gibt Cosmé kurz angebunden zurück, »sondern den Feuerstein.«
Natürlich. »Wieso schneidet ihr ihn dann nicht aus meinem Nabel?« Die Worte sind kaum über meine Lippen, da bedaure ich, sie ausgesprochen zu haben.
Cosmé lässt ein raubtierhaftes Grinsen aufblitzen. »Das ziehe ich noch immer in Erwägung.«
»Cosmé!« Zum ersten Mal höre ich den stillen Jungen etwas sagen. »Wir können das noch nicht riskieren. Die Prophezeiung ist nicht eindeutig. Wir können
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