Der Finger Gottes
keine große Hoffnung für die alte Frau, vermutlich wird sie nie wieder richtig zu sich kommen. Sie hat letzte Nacht ihren Mann verloren. Sie hat ihn die halbe Nacht und den ganzen Tag über gesucht. Vorhin haben sie ihn gefunden. Auf dem Müllerhof. Dort hat man noch einige andere Toten gefunden. Aber das wissen Sie ja längst.«
»Ja, das weiß ich. Aber was hat diese vielen Menschen dort hingetrieben?« fragte Brackmann und tat ahnungslos, er wollte herausfinden, ob und was Reuter von dem Hundekampf wußte.
»Hundekampf«, sagte Reuter ungerührt und setzte sich hinter seinen Schreibtisch; er deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. »Aber das ist Ihnen ja wohl nicht neu, oder?! Na ja, die Scheune muß den Leuten jedenfalls mittendrin auf den Kopf gefallen sein. Und wer sich mit einigermaßen heiler Haut retten konnte, hat sich natürlich gleich auf und davon gemacht. Kein Wunder, sonst hätten sie ja mit einer saftigen Strafe rechnen müssen. Ach ja, falls Sie’s noch nicht wissen sollten, den alten Willy hat’s auch erwischt. Und angeblich, aber das ist bis jetzt nur ein Gerücht, soll Scherer das ganze Spektakel organisiert haben.«
»Haben Sie davon gewußt?«
»Wovon?«
»Von dem Kampf.«
»Was wollen Sie jetzt wissen? Ob ich davon gewußt habe, oder ob ich an so was teilnehme?«
»Beantworten Sie nur meine Frage.«
»Ja, ich habe davon gewußt. Aber ich habe nicht daranteilgenommen. Das müßten Sie eigentlich wissen, schließlich war ich die ganze Nacht im Einsatz.«
»Was soll’s, mir ist im Prinzip völlig egal, ob da gestern nacht ein Hundekampf war oder nicht. Und auch ob Sie dabei waren oder nicht, interessiert mich einen . . . Im Moment machen mir ganz andere Sachen Sorgen.« Brackmann sah Reuter an, der das gleiche graue und eingefallene Gesicht hatte, wie so viele Menschen, denen er im Laufe des Tages begegnet war.
Reuter erhob sich, ging zu einem niedrigen schmalen Schrank, öffnete eine Tür, das Licht des Barfachs schaltete sich automatisch ein. Im Fach standen Flaschen und Gläser.
»Möchten Sie auch was?«
»Haben Sie Whisky?«
»Eis, Soda?«
»Eis.«
Reuter kam mit den gefüllten Gläsern zurück, reichte eines davon Brackmann, setzte sich wieder. »Und was ist der eigentliche Grund Ihres Besuchs?«
Brackmann nippte an seinem Glas. »Oh, es gibt eine Menge offener Fragen zu einer Menge Ereignisse. Was mir absolut nicht in den Kopf will – weshalb eine solche Anhäufung von Ereignissen an einem einzigen Tag? Haben Sie eine Erklärung dafür? Ich meine, es hat doch schon angefangen, bevor der Tornado kam, erst Frau Olsen, dann Scherer, die Vergewaltigung . . .«
»Alles kann man wohl nicht erklären. Aber Scherer hat auf nüchternen Magen einfach zu viel gesoffen, und Maria Olsen – bei ihr war wohl die extreme Wetterlage schuld. Bei Maria hat ohnehin etwas im Körper geschwelt, und Krankheiten . . . vor allem aber auch psychische Defekte können dadurch stark beeinflußt werden. Wir sollten den Einfluß des Wetters auf den Menschen keinesfalls unterschätzen. Wer zum Beispiel unter starken Depressionenleidet, bei dem können bestimmte Wetterlagen durchaus Suizidabsichten verstärken. Es gibt darüber empirische Untersuchungen, die das eindeutig belegen. Wer unter Rheuma, Arthritis, Kreislaufstörungen, Gallen- oder Nierensteinen leidet, wird ein Lied davon singen können, welche Einflüsse das Wetter haben kann. Kopfschmerzen, Blutdrucksteigerung oder -senkung, Gallen- und Nierenkoliken sind da nur kleinere Übel.« Reuter hielt inne, trank seinen Whisky, hielt dann das Glas, in dem sich noch kühlendes Eis befand, in der Hand und schien es zu betrachten. Dann fuhr er fort: »Ich möchte sogar behaupten, daß Nathan die Vergewaltigung bei normaler Wetterlage nicht begangen hätte. Aber das ist nur meine ureigene Vermutung, ich kenne Nathan und seine Vorgeschichte nicht gut genug. Es sind aber meiner Meinung nach Reaktionen ausgelöst worden, die unter normalen Umständen nicht vorkommen würden . . .
Mein Gott, wir hatten gestern über vierzig Grad und dazu eine Luftfeuchtigkeit von etwa achtzig Prozent. Das reinste Killerwetter und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.« Er stand auf, schenkte nach, hielt die Flasche Brackmann hin, der nickte. Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber und tranken ihren Whisky, Brackmann stellte sein Glas auf den Tisch.
Reuter sagte: »Nun, ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich bin müde, wie Sie sich vorstellen können. Wenn
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