Der Finger Gottes
zusammen, richtete sich auf, wollte Esther wecken. Es war bereits zu spät. Eine Urgewalt hatte sich an das Haus geschlichen, sich in die Wände gekrallt, fuhrwerkte am Gemäuer, verhakte sich schließlich unterm Dach und riß es mit sich, als wäre es ein Stück Papier, das aus einem Heft gerissen wurde. Überall krachte und schepperte es, Teile der Decke knallten auf den Fußboden und das Bett. Mit einem Mal erinnerte er sich an sein Barometer, und dann sah er hinüber zu der friedlich schlafendenEsther. Mit beiden Händen packte er sie bei den Schultern, schüttelte sie.
»Esther! Estheeeer!!!« schrie er gegen den Sturm an. Sie öffnete die Augen, verharrte still und regungslos neben Georg, bis auch sie allmählich begriff.
»Mein Gott, Georg, was ist denn das!« flüsterte sie, doch Georg konnte sie in dem tobenden Inferno nicht hören. Auch sie glaubte an einen bösen Alptraum. Dann, nach Sekunden, sprang sie aus dem Bett, hetzte zum Fenster, um es zu schließen. Vielleicht hätte sie im Bett bleiben sollen, das längst übersät war von Splittern, Papier, Putz, Holzstückchen, bestimmt aber wäre es am besten gewesen, das Schlafzimmer auf dem schnellsten Wege zu verlassen und nach unten zu rennen, wo es noch eher Sicherheit gab.
War es Schicksal, vorherbestimmt von einer höheren Macht, daß sie ans Fenster statt hinunter ins Wohnzimmer rannte? Auf jeden Fall flog plötzlich, wie von Geisterhand geschleudert, ein Stück Eisen durchs Fenster, zerschlug die Scheibe und traf Esther etwa in der Mitte des Rückens. Einen Moment stand sie starr vor Entsetzen, die Augen zwei riesige Kugeln, der Mund ein stummer Schrei, bevor sie langsam, fast wie in Zeitlupe, zu Boden sank.
Pickard, der in der Dunkelheit alles nur verschwommen mitbekommen hatte, ahnte sofort, daß Schreckliches mit ihr geschehen war. Er beugte sich über sie. Sie lag auf dem Boden, die Augen weit offen, der Mund verzerrt.
»Esther, was ist passiert?« Er versuchte sie hochzuheben, was ihre Schmerzen noch verstärkte und sie aufstöhnen ließ.
»Mein Rücken . . . mein Rücken tut so entsetzlich weh. Bitte, Georg . . .« Ihr Kopf fiel zur Seite, ihre Augen waren geschlossen. Georg Pickard stockte der Atem. Er fühlte ihren Puls. Er ging noch, langsam zwar, 35 oder 40 Schläge in der Minute, aber er war vernehmbar. Was sollte er tun?
Loslaufen und versuchen, Hilfe zu holen? Aber wo? Wahrscheinlich war ganz Waldstein ein einziges Katastrophengebiet, wahrscheinlich war Reuter gar nicht erreichbar.
Er wußte, er war allein. Verlassen von Gott und der Welt.
Wenn nur die Jungs da wären! Hoffentlich funktioniert das Auto noch!
Er rannte, flog fast die Treppe hinab, vor der letzten Stufe wäre er beinahe gestolpert. Die Tür zur Garage war aus der Verankerung gerissen, genau wie die Haustür mitsamt Rahmen und Teilen des Gemäuers. Holzstücke und Steine lagen auf dem Auto. Er atmete erleichtert auf, als er den Mercedes relativ intakt vorfand. Regen schlug ihm ins Gesicht, es war kalt geworden.
Verdammt, wo habe ich nur wieder die Schlüssel? Vielleicht in der Küche!
Er rannte zurück ins Haus, fand die Schlüssel auf dem Küchentisch. Alles Weitere tat er rennend, ignorierte den stechenden Schmerz in seinen Lungen, daß sein untrainierter, altgewordener Körper gegen die ungewohnte Anstrengung aufbegehrte.
Sie atmete noch. Der Regen hatte in der kurzen Zeit das Schlafzimmer überschwemmt. Eine kräftige Windbö packte die Bettdecke, blies sie auf wie ein Segel, riß sie mit sich fort. Georg Pickard griff unter die bewußtlose Esther, eine Glasscherbe schnitt tief in seine Hand, er merkte es nicht einmal. Vorsichtig hob er Esther hoch. Blut tropfte von seiner Hand auf den nassen Boden, verteilte sich im Wasser. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den andern, und obwohl er dieses Haus seit mehr als fünfundzwanzig Jahren bewohnte, es mit eigenen Händen gebaut hatte und jede Treppenstufe, jede Ecke kannte, so war es doch etwas anderes, ob er bei Licht oder bei völliger Dunkelheit, allein oder mit einem Menschen auf seinen Armen hinunterstieg. Waren es zwölf oder dreizehn Stufen, wie hoch war gleich die letzte Stufe? Nicht auszudenken, wäre er jetzt gestolpert! Er schaffte es, seine Arme und Beine zitterten, seine Schläfenpochten. Ihm war schwindlig, sein Magen rebellierte, er atmete ein paarmal tief durch, bevor er Esther vorsichtig in den Leichenwagen legte, der eine lange und ebene Ladefläche besaß. Zu Reuter? Er verwarf den Gedanken gleich
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