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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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irgendwann und irgendwo wieder ausspie. Dieter und Bernd richteten sich auf, stiegen die Böschung zur Straße hinauf. Sie gingen beide langsam und schweigend Richtung Waldstein. Und dachten an zu Hause. An Mutter und Vater, an das Haus. Hoffentlich . . .
    Der Wagen drehte sich noch ein paarmal um sich selbst, bis letzte Pendelbewegungen ihn allmählich zur Ruhe kommen ließen.
    Reuter hielt seine Hände noch immer um das Lenkrad gekrallt, er blutete aus zahllosen kleinen Wunden. Sein Mercedes war nur mehr Schrott, das Dach eingedrückt, die Motorhaube abgerissen, die rechte Seiten- und die Heckscheibe zersplittert. Er ließ das Lenkrad los, seine Tür klemmte, er hangelte sich zur andern Seite hinüber. Lange Risse zogen sich durch die Windschutzscheibe, winzige rasiermesserscharfe Splitter, wohin er auch griff, Blut an seinen Händen, im Gesicht.
    Er kroch hinaus, kalter Wind peitschte den plötzlich aufgekommenen sintflutartigen Regen in sein Gesicht. Er nahm die Taschenlampe aus seinem Koffer, leuchtete den Weg vor sich aus. Aus allen Richtungen erschollen angstvolle, entsetzte Schreie, die er selbst durch das Heulen des Sturmes hindurch wahrnahm. Mit dem Licht der Taschenlampe tastete er die Häuser ab, dicke Risse zogen sich durch Häuserwände, glaslose Fensterrahmen, fehlende Dächer, umgestürzte, entwurzelte Bäume lagen wie Barrikaden quer über der Straße. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, hatte Mühe, sich gegen den Wind und den Regen zu stemmen, innerhalb weniger Sekunden standen die Straßen unter Wasser.
    Es war Reuters erster Tornado. Und er war zu sehr Realist, als daß er sich der Hoffnung hingegeben hätte, es könnte nur Sachschaden entstanden sein. Er zuckte zusammen, als er ein Brummen vernahm, das er in dieser Nacht schon einmal gehört hatte. Er blieb stehen, hoffte, sich getäuscht zu haben, seine Muskeln spannten sich. Es kam näher, als hätte es nur darauf gewartet, ihn allein und ungeschützt zu finden und zu richten. Er rannte los, so schnell ihn seine altgewordenen Beine trugen, blieb stehen, rannte weiter, erkannteauf einmal, daß seine Nerven ihm einen üblen Streich spielten. Er lehnte sich gegen eine Hauswand, keuchend, seine Schläfen pochten, er hatte Seitenstechen. Seine Lungen fühlten sich an wie ein Nadelkissen, die Beine waren schwer. Er kramte in seiner Tasche, fand das Päckchen mit den Pillen, nahm eine aus der Schachtel, sammelte etwas Speichel im Mund, schluckte das Valium, das gleiche Mittel, das er dann und wann Frau Merkel gegen ihr Asthma verschrieb, damit die hysterische, fette alte Kuh, wie er sie bezeichnete, nicht an einem ihrer Anfälle krepierte.
    Nach einigen Minuten hatte er sich etwas beruhigt. Vorsichtig setzte er seinen Weg fort. Er stand vor seinem Haus, der Regen klatschte dagegen. Er leuchtete mit der Lampe nach oben, ließ den Strahl eine Weile dort stehen, wo bis vor wenigen Minuten noch das Dach gewesen war; jetzt klaffte dort ein riesiges Loch, einzelne Steine des Gemäuers waren aus ihrer Befestigung gerissen worden, sämtliche Fenster zerborsten. Langsam stieg er die vier Stufen nach oben, öffnete die Tür, trat ein. Noch schien bis auf das Dach und die Fenster alles unversehrt. Doch wenn es noch lange regnete . . .
    Das Telefon war tot, er hatte nichts anderes erwartet, nachdem schon die Stromversorgung ausgefallen war. In der Praxis nahm er eine Pinzette und zog sich Dutzende kleiner und winzigster Glassplitter aus den Fingern und dem Gesicht, träufelte etwas Jod auf die am stärksten verletzten Stellen, klebte zuletzt Pflaster darauf. Er trank ein halbes Glas Whisky, um damit die Wirkung des Valiums zu verstärken, nahm seine Tasche vom Tisch und verließ das Haus wieder. Die Nacht, das wußte er, würde verdammt lang werden.

Kapitel 21
    Esther und Georg Pickard schliefen. Hinter ihnen lag die erste wirkliche Liebesnacht seit vielen Jahren, etwas, das Georg schon nicht mehr für möglich gehalten hatte. Im Lauf der Zeit war ihre Ehe auf ein Abstellgleis geraten, die Worte weniger, dafür härter und bissiger geworden. Gleichgültigkeit hatte das Interesse am andern verdrängt, Kühle und Distanz die Wärme und Nähe der Anfangsjahre. Heute abend war alles wie früher. Als hätte die Zeit einen Sprung zurück gemacht, als wäre die alte, herrliche Zeit der heißen Liebe einfach zurückgekehrt. Nicht, daß er über all die Jahre hinweg aufgehört hätte, Esther zu mögen, aber sie hatte sich verändert, stark verändert, so

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