Der Finger Gottes
Ungeheuer ausgerechnet unsere kleine Stadt aussuchen? Warum nicht hier draußen, wo es nichts gibt als Wiesen, Felder und Wald?« murmelte Georg vor sich hin.
Das Krankenhaus lag gleich am Ortseingang. Ein kleines, aber gut ausgestattetes Krankenhaus, das einzige im Umkreis von fast dreißig Kilometern. Pickard hatte hier schon des öfteren Tote abgeholt, um sie in Waldstein zu bestatten. Er hielt direkt vor dem Eingang. Bis auf einen Krankenwagen war der Platz leer. Der Pförtner blinzelte ihn aus müden Augen an.
»Was gibt’s?«
»Wir kommen aus Waldstein. Meine Frau ist schwer verletzt! Bitte, wir brauchen sofort einen Arzt!«
Der Mann war sofort hellwach, griff zum Telefon, schonwenige Augenblicke später näherten sich zwei Pfleger, die eine fahrbare Trage schoben, und ein Arzt mit eiligen Schritten.
»Ich habe gehört, Sie kommen aus Waldstein? Dann sind Sie der erste, der es geschafft hat. Wie ist es passiert, ich meine, haben Sie mitgekriegt, was mit Ihrer Frau geschehen ist?«
»Ich glaube, sie ist von irgend etwas getroffen worden, aber was das war, weiß ich nicht. Es war einfach zu dunkel, ich habe es nicht sehen können.«
»Sieht es schlimm in der Stadt aus?« fragte der Arzt, während er die Augenlider von Esther Pickard anhob und mit einer Lampe in die Pupillen leuchtete.
»Waldstein ist nicht wiederzuerkennen. Bitte, Doktor, helfen Sie ihr!«
Sie wurde in einen großen kühlen Raum gebracht. Es roch nach Desinfektionsmitteln, eine Lampe verbreitete kaltes bläuliches Licht. Der Arzt bat Pickard, mit seinen Söhnen auf dem langen matterleuchteten Gang zu warten.
Bernd und Dieter hatten sich auf eine Bank gesetzt, die so kalt und leblos wirkte wie alles hier. Pickard hatte sein Gesicht abgewandt, ihm war übel, er zitterte.
Sie mußten lange warten, bis der Arzt zurückkam. Er machte ein besorgtes Gesicht, sein ernster Blick war fest auf Pickard gerichtet, der kaum zu atmen wagte.
»Was ist mit ihr?«
»Wenn ich das so einfach sagen könnte«, antwortete der junge Arzt. »Ihre Frau ist noch bewußtlos. Glücklicherweise ist ihr Kreislauf stabil. Soweit wir feststellen konnten, gibt es bis auf ein paar unwesentliche Schürfwunden keine eindeutigen äußeren Verletzungen«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, richtete seinen Blick zu Boden, kaute auf seiner Unterlippe herum, er war unsicher, »aber ich fürchte, sie hat innere Verletzungen.«
»Das heißt, Sie wissen es nicht? Was für Verletzungen? Sagen Sie schon!«
»Also, nach unseren bisherigen Untersuchungen sind Bauchraum und Lunge okay. Allem Anschein nach liegt die Verletzung im Bereich der Wirbelsäule. Ich warte aber noch auf die Röntgenbilder, sie müßten jeden Augenblick fertig sein. So lange muß ich Sie leider noch vertrösten.«
»Doktor!« Eine etwas ältere, großgewachsene, dürre unattraktive Schwester reichte dem Arzt einen großen braunen Umschlag. Er öffnete ihn, holte fünf Bilder heraus, die sämtlich die Wirbelsäule von Esther zeigten. Der Arzt zeigte keine Regung.
»Kommen Sie bitte mit.« Er ging voran, Pickard und seine Söhne folgten ihm. Der Arzt heftete die Bilder an den beleuchteten Wandschirm.
»Und?« fragte Pickard ungeduldig.
»Hier, sehen Sie. Wie ich vermutet habe.« Der Arzt zeigte auf eine selbst für ein ungeübtes Auge deutlich erkennbare Ausbuchtung im unteren Rückenbereich. »Hier an dieser Stelle muß Ihre Frau von einem sehr harten Gegenstand getroffen worden sein. Wie es aussieht, ist dieser Wirbel und unter Umständen auch der darunterliegende gebrochen. Es muß ein sehr harter Schlag gewesen sein. Sie müssen wissen, um eine Wirbelsäule zu brechen, bedarf es sehr, sehr viel Kraft. Aber was die genaue Diagnose angeht, möchte und kann ich mich noch nicht festlegen. Zum einen bin ich kein Spezialist für Wirbelsäulenverletzungen, zum andern sind für eine genaue Diagnose einfach noch weitere Untersuchungen notwendig.«
Pickard hörte die letzten Worte nicht mehr. Er wußte, was ein gebrochener Rückenwirbel bedeutete. Trotzdem stellte er die Frage: »Ist es heilbar? Oder wird sie sterben?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Prophet, aber wenn Ihre Frau bis jetzt überlebt hat, und sie scheint mireine recht gute Konstitution zu besitzen, dann wird sie auch den Rest mit aller Wahrscheinlichkeit überleben, vorausgesetzt, sie hat nicht doch innere Verletzungen. Aber wie gesagt, ich will und kann mich nicht festlegen. Bitte verstehen Sie mich.« Er legte eine Hand auf
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