Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
der Menschheitsgeschichte. Ist der revolutionäre Prozess erst zum Abschluss gekommen, werden wir im Rückblick vielleicht feststellen, dass die Welt, wie wir sie kannten, nicht mehr existiert. Wie aber wird die Zukunft aussehen? Die Antwort hängt ganz davon ab, wie viel Mut wir beweisen: Sind wir in der Lage, das Krebsgeschwür der modernen Politik auszumerzen und uns die Kontrolle über die res publica zurückzuerobern, dann ist die Zukunft unser.
Die Ausschreitungen und Plünderungen vom August 2011 in London geben eine Vorahnung dessen, was geschehen wird, wenn es nicht gelingt, die Ungleichgewichte in unserem Politik- und Wirtschaftsmodell zu beseitigen. Das Schlüsselwort zu diesen bedauerlichen Ereignissen ist »Ungleichheit« – die tiefe Kluft zwischen den Mächtigen, deren Macht immer noch größer wird, und jenen, die keinerlei Einfluss auf ihr Schicksal haben. An dieser Stelle sollten wir einen genaueren Blick auf die Ereignisse vom Sommer 2011 in Großbritannien werfen, die sich vom sonstigen friedlichen Verlauf der neuen Revolutionen unterscheiden. In Großbritannien kam es zu einer gewaltsamen und zerstörerischen Revolte. Wo sind die Gründe dafür zu suchen?
Gotham kontra Disneyland
Würde William Shakespeare noch leben, würde er die Ereignisse, die sich im Sommer 2011 in London zugetragen haben, vermutlich zu einer Tragödie verarbeiten. Die Ungleichheiten im London von heute sind von denen des Elisabethanischen Zeitalters gar nicht so verschieden. Eines nämlich hat sich überhaupt nicht verändert: Für die privilegierte Schicht existiert Benachteiligung nicht. Neuarm und Neureich lebt Tür an Tür, doch ihre Welten berühren sich nicht, da zwischen ihnen eine ebenso unsichtbare wie unüberwindbare Barriere verläuft: Geld. Die ärmeren Schichten bewegen sich in den teuren und hoffnungslos überfüllten Massentransportmitteln durch die Stadt, die Reichen haben gepanzerte Wagen mit abgedunkelten Scheiben. Willkommen in der Hauptstadt der Austerität, der neuen Sparpolitik, welche die Sozialsysteme auf ein Minimum beschneidet und die Mehrwertsteuer auf 20 Prozent anhebt. Willkommen in der schönen neuen Welt, in der das Wirtschafts»wachstum« stets negativ ist und an allen Ecken und Enden Ausverkaufsschilder hängen: Sales!
In Großbritannien ist der Einkommensunterschied zwischen den reichsten und den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung doppelt so hoch wie in Schweden, Norwegen oder Japan. Diese Schere begann sich Ende der siebziger Jahre zu öffnen, obwohl die New-Labour-Regierung unter Tony Blair die Steuern für die Vermögenden anhob. Wie kam es also zu dieser Situation? Nun, die Einkommen der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung stiegen sehr viel steiler an als die der Restbevölkerung – mit Billigung der Regierung. Der Blair-Berater und Labour-Politiker Peter Mandelson drückte das 1998 so aus: »Wir [von der Labour Party] haben kein Problem damit, wenn Leute unverschämt reich werden!« Es war halt eben Pech, dass der Trickle-down-Effekt, den die Neoliberalen um Mandelson den ärmeren Schichten prophezeit hatten, ausblieb. Das Geld kam weiter unten nur nicht an. Wem es damals gutging, dem geht es heute glänzend. Wem es damals schlechtging, der steht heute vor dem Abgrund der Armut. Wie in Italien hat auch in Großbritannien die Mittelschicht einen enormen Abstieg hinnehmen müssen.
Sogar die Geburtenraten schreiben diese Ungleichheit weiter fort. Mit Zuwachsraten von 1,7 bis 1,8 Prozent jährlich, die entschieden über denen der restlichen Länder Europas liegt, erreicht die Kinderarmut in Großbritannien einen traurigen Rekord. Diese Kinder stammen meist aus armen Emigrantenfamilien oder leben mit alleinerziehenden Müttern. Vor dem neuen Sparkurs der Regierung bekamen sie vom Staat gerade noch genug, dass sie ihre Kinder gerade so durchbringen konnten. Nicht mehr. Viele der Jugendlichen, die mit heruntergezogener Kapuze und Sweatshirt Londons Designerläden plünderten, kamen aus vaterlosen Familien, aus Elendsvierteln. In diesen sozialen Gefangenenlagern herrscht in den Städten des Nordens, aber auch in einigen Gegenden Londons oft eine Arbeitslosigkeit von bis zu 60 Prozent.
Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson bezeichnete die neue Austeritätspolitik als »soziale Säuberung im Kosovo-Stil«. Die Sparmaßnahmen von Premierminister David Cameron wurden in der Hauptstadt von Anfang an scharf kritisiert. »In London leben 12 Prozent der Bevölkerung Großbritanniens.
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