Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Die Stadt erwirtschaftet 20 Prozent des britischen BIP und schafft so einen Steuerüberschuss von 15 Milliarden Pfund, der dann aber im Rest des Landes verteilt wird«, meinte der Lord Mayor der City of London, Nicholas Anstee, in seiner traditionellen Weihnachtsansprache. Im Grunde hört sich das an wie die Reden der Lega Nord vom reichen Norden Italiens, der den armen Süden finanzieren muss: Weshalb muss die Hauptstadt, die so viel Reichtum produziert, dieselben sozialen Einschnitte hinnehmen wie der Rest des Landes?
Eine Schande allerdings, dass all der Reichtum Londons auf den Straßen nicht sichtbar wird. London wirkt, als stünde es kurz vor dem Ruin.
»Überall gibt es Rabattaktionen, und doch kaufen die Leute immer weniger«, meint einer der Manager von Waitrose, einer britischen Supermarktkette. Im Jahr 2010 sanken sogar die durchschnittlichen Ausgaben für Weihnachtseinkäufe in der Londoner City, die traditionell ein gutes Maß für den Wohlstand der Bevölkerung sind. Und tatsächlich schrumpfte Großbritanniens Wirtschaft im letzten Quartal 2010 um 0,5 Prozentpunkte. Im Winter, wenn es schon gegen 15.30 Uhr dunkel wird, wenn ein eisiger Regen über den schmutzigen Straßen Sohos niedergeht, erinnert London an Gotham City, die Stadt Batmans, wo die massive soziale Ungerechtigkeit in einer erhöhten Kriminalitätsrate resultiert. London ist nicht nur europaweit »führend«, was Autodiebstähle angeht. Die Stadt liegt auch weit vorn, was die Zahl der Raubüberfälle und der Messerstechereien zwischen Mitgliedern rivalisierender Gangs betrifft.
Einen Steinwurf vom Piccadilly Circus und den Theatern der Shaftesbury Avenue entfernt stehen riesige Wohntürme, die in der Nachkriegszeit auf den von den Deutschen hinterlassenen Bombentrümmerhaufen errichtet wurden. In diesen Festungen der Armut, die wie Leopardenflecken über die ganze Stadt verteilt sind, zieht eine neue Generation von Teeniemüttern mit staatlicher Unterstützung den Nachwuchs für die Handlanger der Unterwelt groß. Von Tottenham bis Croydon, von den Seven Sisters zum Crystal Palace teilen sich die »ungleichen« Familien den städtischen Raum mit den Emigranten, einen Raum, der immer enger wird und in dem sie gerade mal den Weg vom Pub zum Sofa finden, wo sie versinken, um mit voyeuristischer Befriedigung Reality-Soaps zu verfolgen. Von diesem London bekommt der Tourist gewöhnlich nichts mit. Doch ebendieses London muss man durchqueren, wenn man zu den Sportstadien der Olympischen Spiele von 2012 im Osten der City will.
Man hat das olympische Dorf mit seinem Sportkomplex bewusst in einer der sozialen Randzonen angelegt, um diese aufzuwerten. Zunächst allerdings wurde nur das lokale Verbrechen gestärkt. Journalisten vom Daily Star fanden heraus, dass kriminelle Banden Schmiergelder von den Bauunternehmern erpressten, die die Ausschreibungen gewonnen hatten. Außerdem wurden auf den Baustellen illegale Einwanderer regelrecht »verdealt«. Dem Betrug waren Tür und Tor geöffnet. Es ging ja auch um einiges: Der Kostenvoranschlag für die Olympiade belief sich auf 93 Milliarden Pfund. Scotland Yard rief sogar eine Sondereinheit ins Leben, die ihren Dienst aufnehmen sollte, sobald ab Ende Februar die Karten für die Spiele verkauft würden. Gefälschte Webseiten, auf denen angeblich Tickets verkauft wurden, gefälschte Karten, Identitätsdiebstahl – Londons Unterwelt rüstete sich für Olympia und hieß jeden willkommen, der den Ärmelkanal überqueren wollte, um die Spiele zu genießen.
Sogar der Premierminister gesteht ein, dass London eine Stadt am Abgrund ist, die – wie Gotham City – ihre Identität verloren hat, weil unter der Labour-Regierung die Korruption sich ungehindert entwickeln konnte. Doch eben weil London ein Spiegel der britischen Gesellschaft ist, nutzt die Regierung die Hauptstadt als Versuchslabor, um die neuen Sparmaßnahmen zu testen. Dazu gehört zum Beispiel das Projekt »Big Society«, bei dem es um die Dezentralisierung und Auslagerung sozialer Dienste auf freiwillige Helfer sowie kleine und mittlere Unternehmen in den betroffenen Regionen geht. Am heftigsten wird über die Gesundheitsversorgung gestritten, in der die Stellung des Hausarztes gestärkt werden soll. Die Londoner scheinen das Projekt zu begrüßen, wohingegen der Bürgermeister, die Stadtbezirke und die Opposition dagegen sind. So ist um die geringen staatlichen Leistungen im Gesundheitssystem ein heftiger Kampf um die urbane Meinungshoheit
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