Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
tätigen Hauses die Rekordsumme von 112 Millionen Pfund ein.
Bei der »Earls Court Boatshow« müssen potenzielle Käufer, die sich für eine der teuersten Luxusjachten der Welt interessieren, mittlerweile eine Wartezeit von drei Jahren einplanen. Dasselbe gilt für Privatjets, die buchstäblich weggehen wie warme Semmeln. Architekten, Innenausstatter und alle sonstigen im Sektor Luxusgüter Tätigen berichten, sie verkauften so viel wie nie zuvor. Das Geld scheint in Strömen durch London zu fließen. Denn ohne die finanziellen Mittel, die die Metropole am Laufen halten, würde Gotham City Disneyland wohl bald verschlucken. Was ohnehin noch passieren kann, war es doch im August 2011 schon fast so weit. Eine Art Generalprobe der Revolution, die im Licht der ökonomischen Ungleichgewichte in der Hauptstadt nur zu verständlich, ja beinah vorhersehbar erscheint.
In London gibt es keine Industrie, keine Werkstätten oder -hallen, in denen Produkte für den ärmeren Teil der Bevölkerung hergestellt werden. Sogar die Souvenirs, die anlässlich der königlichen Hochzeit im April 2011 so reißenden Absatz fanden, kamen aus China. Alles in der Hauptstadt ist auf die Bedürfnisse des Geldadels ausgerichtet: von der Finanzwelt, die das Kapital weiter anwachsen lässt, bis hin zu den kostenlosen City Bikes, die der fahrradfahrende Bürgermeister haben wollte und die natürlich nur in den »besseren« Vierteln zu finden sind.
Anders aber als noch vor zehn Jahren bemühen sich die Superreichen mittlerweile, ihren Wohlstand zu verbergen, um nicht den Zorn des Volkes zu erregen. Prinz Charles und seine Gemahlin Camilla können mittlerweile ein Lied davon singen. Im März rief die radikale Kürzung der Bildungsausgaben jene jungen Leute auf die Straße, die es satthatten, mit ihrer Zukunft für die Fehler der älteren Generation zu bezahlen. Die teuren Privatschulen schlossen an jenem Tag schon mittags ihre Tore, damit ihre Studenten sich nicht ihren weniger privilegierten Kommilitonen der staatlichen Schulen anschließen konnten. Doch vergeblich. Kaum war der Unterricht zu Ende, mischten sich auch die Privatschüler unter die Protestierenden. Die Demonstrationen vom März 2011 schlugen eine erste Brücke zwischen Gotham und Disneyland. Die zweite große Protestwelle erhob sich im August 2011, doch dieses Mal standen die Einwohner von Gotham und die von Disneyland einander gegenüber.
Ist das London, das von Banden von Hooligans unsicher gemacht wurde und in dem Schläger vom Supermarkt bis zur Elektronikkette alles plünderten, wirklich dieselbe Stadt, die einige Monate zuvor die Hochzeit von Prinz William und der strahlenden Kate Middleton feierte? Ja, aber verständlich wird dies nur vor dem oben skizzierten Hintergrund. Wer die Twitter-Botschaften der Revolte las, war plötzlich mittendrin in der Shakespeare-Tragödie. Die sozialen Unterschiede, die das Land bislang kaschiert hatte, kamen abrupt zum Vorschein. Ein Land, in dem Klassenunterschiede sich dreißig Jahre lang so innig mit rassistischer Diskriminierung verwoben haben, dass daraus ein soziales Dickicht entstanden ist, ein wahrer Stacheldrahtverhau, der einen Großteil der Bevölkerung ausschließt.
Wer sich ansieht, wo es zu Plünderungen und Ausschreitungen kam, entdeckt auf der Straßenkarte Londons eine Linie, die sich genau dort entlangzieht, wo die Viertel der Reichen auf die der Armen treffen. Wo neben befestigten und durch hohe Mauern geschützten Häusern Sozialwohnungen emporwachsen. Wer nicht hat, dem wird auch in Zukunft nicht gegeben. Daher »holt er sich etwas davon zurück«, denn so bezeichneten die Plünderer ihre Tätigkeit.
In einer Geschichte, die so alt ist wie die Menschheit selbst, rächen sich die Ausgegrenzten. Ihre Plünderungen in den Luxusgüter-Shops haben sie den Stacheldraht überwinden lassen, der ihnen bislang den Zutritt verwehrte. Und sie erobern sich ihr Sein zurück, das ihnen vom Credo eines unbarmherzigen Konsumgotts geraubt wurde: »Ich kaufe, also bin ich.« Nur wer kauft, existiert wirklich – wie der Erwerb erfolgt, ist nicht von Belang.
Das ökonomische Ungleichgewicht und der Ausschluss ganzer Bevölkerungsschichten können sogar im zivilisierten und demokratischen Europa zu erstaunlich gewaltsamen Gegenreaktionen führen. Da unter allen EU-Staaten Italien das Land ist, dessen Vermögensverteilung der in Großbritannien am stärksten ähnelt, ist es also durchaus möglich, dass es auch hier zu gewaltsamen
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