Der Fledermausmann
gestrichen. Die kam irgendwie nicht an.« Harry rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Unter seinem Hemd rann ihm der Schweiß.
»Nein, ich habe auch nicht ganz begriffen, was sie mit dieser Nummer wollten . . .?«
»Das war Rechtnagels eigene Idee. Ich habe mich in meiner Jugend selbst einmal als Clown versucht. Es macht mir deshalb Spaß, zu verfolgen, was auf der Bühne passiert, wenn wir einen Zirkus hier haben, und ich erinnere mich, daß diese Nummer erst bei der letzten Probe vor dem Unglück dabei war.«
»Ich hab mir schon gedacht, daß Otto damit zu tun hatte, ja.«
Er kratzte sich an seinem frischrasierten Kinn.
»Eine Sache beschäftigt mich besonders, und ich frage mich, ob Sie mir da vielleicht helfen können. Es gibt auf der Erde ja alles mögliche, aber hören Sie sich erst einmal meine Theorie an, und sagen Sie mir dann, was Sie meinen: Otto weiß, daß ich im Publikum sitze, und er weiß etwas, das ich nicht weiß, das er mir aber irgendwie klarmachen will. Aber er kann es nicht offen sagen. Aus vielerlei Gründen. Vielleicht, weil er selbst damit zu tun hat. Also, diese Nummer ist auf mich zugeschnitten. Er will mir sagen, daß derjenige, den ich jage, selbst der Jäger ist, einer wie ich, ein Kollege. Ich weiß, das hört sich etwas zurechtgebastelt an, aber Sie wissen ja, wie exzentrisch Otto sein konnte. Was meinen Sie? Würde das zu ihm passen?«
Der Wachmann schaute Harry lange an.
»Konstabel, ich glaube, Sie brauchen noch einen Kaffee. Die Nummer hatte überhaupt keine Verbindung zu Ihnen. Das ist eine klassische J-J-Jandy Jandaschewsky-Nummer, das kannIhnen jeder, der etwas vom Zirkus versteht, bestätigen. Nicht mehr und nicht weniger. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen damit eine T-T-Theorie vermassel, aber . . .«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Harry erleichtert. »So etwas hatte ich im stillen gehofft. Dann kann ich diese Theorie wirklich fallenlassen. Sie sagten, Sie hätten noch einen Kaffee?«
Er bat darum, die Guillotine sehen zu dürfen, und der Wachmann führte ihn in den Requisitenraum.
»Mir läuft immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich hier reinkomme, aber inzwischen kann ich nachts wenigstens wieder schlafen«, sagte der Wachmann und schloß die Tür auf. »Wir haben den Raum zwei Tage lang geschrubbt.«
Ein kalter Hauch kam ihnen aus dem Zimmer entgegen, als sie die Tür öffneten.
»Los, anziehen«, sagte der Wachmann und knipste das Licht an. Die Guillotine thronte in der Mitte des Raumes. Sie war mit einer Decke verhüllt und sah aus wie eine schlafende Diva.
»Los, anziehen?«
»Oh, nur ein Scherz hier im Haus. Wir pflegen das hier im St. George-Theater zu sagen, bevor wir einen d-d-dunklen Raum betreten.«
»Warum das denn?« Harry schob die Decke zur Seite und fuhr mit dem Daumen über die Klinge der Guillotine.
»Oh, das ist eine alte dumme Geschichte aus den Siebzigern. Unser Chef war damals ein Belgier, Albert Mosceau, ein temperamentvoller Mann, aber wir als Angestellte kamen gut mit ihm zurecht, ein echter Theatermensch, bless his soul. Die Leute behaupten ja, daß die Theatermenschen üble Schürzenjäger und L-Libertins sind, und da ist vielleicht ja sogar etwas Wahres dran. Ich sage nur, wie es ist. Es gab jedenfalls damals einen etablierten guten Schauspieler im Ensemble, ich w-w-will keine Namen nennen, der sich als rechter . . . der ein verdammt geiler Bock war. Die Frauen wurden schwach, und die Männer fluchten und waren eifersüchtig. Wir haben damalsab und zu Führungen gemacht, wenn Gäste das Theater sehen wollten. Eines Tages betrat der Führer der Besichtigung zusammen mit einer Schulklasse den Requisitenraum. Er schaltete das Licht an – und da lag unser geiler Bock auf einem Rokokosofa, das wir für eine Aufführung brauchten, und bearbeitete eine der Kantinenfrauen.
Natürlich hätte die Aufsicht die Situation retten können, denn der bekannte Schauspieler, ich nenne keinen Namen, hatte ihnen den Rücken zugedreht. Aber die Führung machte ein junger Kerl, der selbst hoffte, eines Tages Schauspieler zu werden und der noch dazu, wie die meisten Theaterleute, ein eitler Fatzke war. Deshalb trug er keine Brille, obwohl er sehr kurzsichtig war.
Er sah einfach nicht, was da auf dem Rokokosofa vor sich ging und glaubte wohl, daß sich alle wegen seiner spannenden Erläuterungen plötzlich in den Raum drängten. Als er nicht aufhörte, seine Informationen abzuspulen, fluchte der alte Bock lauthals, achtete aber peinlich genau
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