Der Fliegende Holländer
verwickelt.
»Könige sind eine anachronistische Obszönität«, ließ der junge Deutsche verlauten. »Die Menschheit wird erst dann wirklich frei sein, wenn auch das letzte königliche Haupt auf den Zinnen des eigenen Palastes aufgespießt ist.«
Falls sich der junge Deutsche die Mühe gemacht hätte, den Fremden genauer anzusehen (was er natürlich nicht tat), wäre ihm aufgefallen, daß der Mann ordentlich gekleidet war, einen völlig durchschnittlichen Körperbau besaß und aufgrund seines wettergegerbten Gesichts entweder ein mürrischer Endzwanziger oder ein jugendlicher Vierziger war. In seinem gestutzten Bart war eine Spur von Grau zu erkennen, und sein Blick war so scharf, wie ein Briefumschlag sein kann, wenn man mit der Zunge über die gummierte Stelle fährt. Der Mann dachte über die Aussage des Deutschen ernsthaft nach, wischte sich etwas Schaum vom Bart und antwortete, daß nach seiner bescheidenen Meinung die meisten Könige nicht schlimmer seien als ein Zahnarztbesuch.
Der junge Deutsche blickte ihn böse an und zischte: »Wie können Sie so etwas behaupten? Denken Sie doch nur an einige der sogenannten großen Könige der Geschichte. Sehen Sie sich Xerxes an! Sehen Sie sich Barbarossa an! Sehen Sie sich Napoleon an!«
»Ich dachte, der war ein Kaiser«, unterbrach ihn der Fremde.
»Ach, das ist doch dasselbe!« winkte der Deutsche zornig ab. »Sehen Sie sich Iwan den Schrecklichen an. Sehen Sie sich Philipp von Spanien an!«
»Das hab ich bereits getan«, merkte der Fremde an.
Infolge der Art, wie er das gesagt hatte, erstarrte der junge Deutsche auf der Stelle, und blickte den Fremden verdutzt an. Es war, als säße er plötzlich mitten auf den Champs-Elysees Michelangelos David Auge in Auge gegenüber, der einen Zylinder und einen Gehrock trug. Er setzte das Glas ab und fragte in ruhigem Ton: »Was haben Sie da eben gesagt?«
»Bitte glauben Sie nicht, daß ich aufschneiden will«, entgegnete der Fremde. »Ich weiß auch nicht, warum ich das erwähnt hab, zumal es im Zusammenhang mit Ihren Aussagen völlig unerheblich ist. Also, fahren Sie bitte fort.«
»Sie haben Philipp von Spanien leibhaftig gesehen?«
»Nur ein einziges Mal. Auf dem Escorial, damals fünfundachtzig. Ich war in Madrid und hatte nichts zu tun. Ich hatte gerade eine komplette Ladung Jute losgeschlagen. Damals konnte man in Madrid für Jute verlangen, was man wollte. Ich glaube, die Seiler haben Taue daraus gemacht. Ich hielt es jedenfalls für eine gute Idee, die Zeit zu nutzen und zum Palast rauszureiten. Das sind fast fünfzig Kilometer, also alles andere als ein Katzensprung, und ich hab fast den ganzen Tag gebraucht. Als ich dort eintraf, kam Philipp gerade von irgendeinem auswärtigen Besuch nach Hause. Soweit ich mich erinnere, hab ich seinen Kopf wenigstens zwölf Sekunden lang gesehen, bevor ich von den Wachen zurückgedrängt wurde. Und ich bin mir sicher, daß es sein Kopf war, weil er eine Krone trug. Entschuldigung, was haben Sie eben gesagt?«
»Wie kann es angehen, daß Sie Philipp von Spanien gesehen haben?« fragte der junge Deutsche. Er hatte nicht einen Augenblick lang an den Worten des Fremden gezweifelt, und um so dringender mußte er wissen, wie so etwas möglich sein konnte. »Schließlich ist er seit über zweihundertfünfzig Jahren tot.«
Der Fremde lächelte. Es war ein sehr absonderliches Lächeln. »Das ist freilich eine lange Geschichte.«
»Das macht nichts.«
»Sie ist wirklich sehr lang.« Auch der Akzent des Fremden klang so absonderlich, daß er in jedem Land der Welt ausländisch geklungen hätte. »Und wenn ich lang sage, dann meine ich auch lang.«
»Das macht wirklich nichts.«
»Also gut«, willigte der Fremde ein. »Aber sagen Sie später nicht, daß ich Sie nicht gewarnt hätte.«
Der junge Deutsch nickte ungeduldig. Der Fremde nahm einen kräftigen Schluck Bier, lehnte sich zurück und begann zu erzählen.
»Ich wurde 1553 in Antwerpen geboren.« Er hielt inne. »Wollten Sie gerade etwas sagen?«
»Nein.«
»Komisch«, staunte der Fremde, »normalerweise werde ich an dieser Stelle immer unterbrochen. Also sage ich es noch einmal: Ich wurde 1553 in Antwerpen geboren – fünfzehnhundertdreiundfünfzig«, wiederholte er langsam, als wünschte er sich, von dem jungen Deutschen als Lügner bezeichnet zu werden. Aber er hatte kein Glück und fuhr fort: »Und als ich fünfzehn war, besorgte mir mein Vater eine Stelle bei einem handeltreibenden Überseespekulanten, dem er
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