Der Fliegende Holländer
Wege gehen wollte – wie Sie sich leicht vorstellen können, konnten wir uns nach der langen Zeit und dem Geruch auf dem Schiff gegenseitig zwar notgedrungen noch riechen, aber bestimmt nicht mehr ausstehen –, drang plötzlich wieder eine erste feine Duftwolke dieses bestialischen Gestanks durch. Wir wußten sofort, daß wir ihn nur vorübergehend losgeworden waren, und verbrachten den ganzen Tag damit, jeden Tropfen Bier, jedes Schachspiel, jedes Buch und jede chemische Apparatur zu kaufen, die wir in der Hektik in die Hände bekamen. Danach schafften wir es gerade noch, rechtzeitig aufs Schiff zu kommen, bevor wir von einem wilden Haufen aufgebrachter Franzosen, die sich allesamt Taschentücher vors Gesicht hielten, ins Meer geworfen werden konnten. Wir machten uns noch immer vor, ein Gegenmittel gefunden zu haben, dessen Wirkung nur verpufft war, und wiederholten deshalb sorgfältig sämtliche Experimente der letzten sieben Jahre. In einer dicken Kladde mit ledernem Einband hielten wir sämtliche Ergebnisse ordentlich gegliedert und peinlich genau fest. Nachdem wir alles ausprobiert hatten und nichts davon funktioniert hatte, verloren wir den Mut und spielten ein ganzes Jahr lang vor der afrikanischen Küste ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹. Einige wenige Male sind wir auch an Land gegangen, aber immer nur für ein paar Stunden, und es gibt – oder gab – einen Stamm auf Madagaskar, der uns als Götter verehrt; das waren immer sehr schöne, stark geruchsbetonte Zeremonien. Sieben Jahre nach unserer Stippvisite in Le Havre verschwand der Gestank erneut, und wir liefen in Tanger ein, um dort einzukaufen. Wir hingen dort etwa eine Woche fest, weil die Winde ungünstig standen, wobei wir genau wußten, daß wir insgesamt nur einen Monat zur Verfügung hatten. Natürlich hatten wir recht – drei Wochen später kam der Gestank zurück, und sieben Jahre später verschwand er wieder. So lief es unentwegt nach demselben Schema ab, und nachdem wir uns neunundvierzig Jahre lang mit alchimistischer Theorie befaßt hatten, wußten wir auch, warum, selbst ein Blinder hätte darauf kommen müssen.
Mittlerweile waren wir übrigens alle recht gute Alchimisten geworden und bestritten als solche unseren Lebensunterhalt. Dreiundachtzig Monate der sieben Jahre verbrachten wir damit, unedles Metall in Gold zu verwandeln, und in dem verbleibendem Monat gaben wir es aus. Das grundsätzliche Problem der Alchimie ist, daß zwar alles ganz gut funktioniert, aber daß die konventionelle Methode, das Zeug mit Spitzhacke und Schaufel aus dem Boden zu holen, vergleichsweise sehr viel einfacher und wirkungsvoller ist. Ich schweife schon wieder vom Thema ab. Sie müssen schon entschuldigen …«
Es trat ein sehr langes Schweigen ein, währenddessen der junge Deutsche seine Fähigkeit, klar zu denken, wiederzuerlangen versuchte.
»Also leben Sie seit 1553?« fragte er zögernd.
»Ja, das trifft es sozusagen auf den Punkt. Haben Sie vielleicht noch irgendwelche andere Fragen?«
»Nein, nein, ich denke, Sie haben genug erzählt«, wehrte der Deutsche freundlich, aber entschieden ab.
»Ich versteh schon«, sagte der Fremde. »Die meisten Leuten reagieren so auf meine Geschichte, allerdings hab ich sie in letzter Zeit nur wenigen erzählt. Sie sind sogar der erste seit mehr als dreißig Jahren.«
»Nun, ich …«, begann der Deutsche, besann sich dann aber eines Besseren und entschied sich, den Fremden finster anzublicken, wobei er wie ein Mann auf einem von Hieronymus Boschs weniger fröhlichen Gemälden aussah. Dem Fremden schien das Schweigen nicht zu behagen, denn er begann wieder zu reden.
»O ja, ich hab in meinem Leben schon so einige höchst interessante Dinge erlebt. Sagen wir mal, ziemlich interessante Dinge. Sie haben gerade eben Napoleon erwähnt. Mit Napoleon bin ich nur ein einziges Mal zusammengetroffen, als ich gerade …«
Der junge Deutsche sprang plötzlich auf, schrie wie am Spieß und rannte Hals über Kopf davon.
Vanderdecker schüttelte den Kopf und holte sich am Tresen ein neues Glas Bier. Als er die Geschichte das letztemal jemandem erzählt hatte, war es fast genau dasselbe gewesen. Er war in Porlock an Land gegangen und hatte diesen Mann getroffen, der eigentlich auf dem Weg zu einer Hochzeit war. Schon damals hatte sich Vanderdecker geschworen, nie wieder jemandem etwas zu erzählen, aber die überwältigende Freude, nach sieben Jahren mit Antonius, Johannes, Pieter und Cornelius endlich einmal wieder
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