Der Fliegende Holländer
Seeschlangen umrandet waren. Daß er sich nicht von ihnen trennen mochte, verteidigte er immer wieder damit, daß er (I.) an sie gewöhnt sei, sie (II.) schön aussähen und es (III.) unter den gegebenen Umständen sowieso völlig egal sei.
Da es seiner Mannschaft ganz allgemein an der intellektuellen Fähigkeit mangelte, sich mit einem Menschen auseinanderzusetzen, der sich mit in Klammern gesetzten römischen Zahlen auszudrücken vermochte, hatte er gelernt, auf den Gebieten der Kartographie und Navigation recht gut allein klarzukommen – die Kurzsichtigkeit dieser Angewohnheit wurde ihm allerdings hin und wieder vor Augen geführt.
Von Dounreay hatte er schon einmal etwas gehört; soweit er sich erinnern konnte, lag dieser Ort irgendwo in Schottland … an der Küste – mehr fiel ihm dazu aber nicht ein. Nach einem vierhundertjährigen Dasein litt allmählich das Erinnerungsvermögen. Wie ein Briefmarkensammler, der nach einigen Jahren sämtliche entwerteten britischen Postwertzeichen ausrangiert – die eigens für ihn von seiner älteren weiblichen Verwandtschaft fein säuberlich aus Briefumschlägen ausgeschnitten worden waren –, um sich nur noch auserlesene Exemplare zuzulegen, war auch Vanderdecker wählerisch geworden, was er im Kopf behalten wollte und was nicht.
Er wühlte in der Schublade herum und kramte eine Karte hervor, die er noch nie benutzt hatte. Unglücklicherweise war auf ihr Jerusalem als das Zentrum des Universums eingetragen, und er steckte sie mit einem Seufzer zurück. Die nächste, die er herauszog, gab sich äußerst bedeckt, was Australien anging, und auch sie fand keine Gnade. Wie der Zufall es wollte, war Vanderdecker der erste Europäer gewesen, der den Fuß auf australischen Boden gesetzt hatte. Damals hatte er nur einen kurzen Blick ins Landesinnere geworfen und gesagt: »Nein, das muß ich mir nicht antun«, und sich dann nach Neuguinea aufgemacht. Auch nachfolgende Besuche hatten ihn nicht von seiner Meinung abbringen können.
Wie er sich sagte, gab es nur noch eine Möglichkeit, sich nach Dounreay zu erkundigen – er mußte den ersten Maat fragen. Zwar hätte Antonius auch keine Antwort darauf parat, aber auf diese Weise hätte sich Vanderdecker mit seiner Unwissenheit in angemessener Gesellschaft befunden.
Antonius spielte gerade mit dem Koch auf dem Achterdeck Schach. Vanderdecker sah, daß von Antonius’ einst stolzen schwarzen Armee nur noch der König übrig war, was allerdings alles andere als ungewöhnlich war; seit vierhundert Jahren spielte Antonius täglich drei bis vier Stunden lang Schach, und er hatte noch nie eine Partie gewonnen.
»Antonius, weißt du zufällig, wo Dounreay liegt?« fragte Vanderdecker.
Antonius blickte zornig zu ihm auf. Sein Gesichtsausdruck legte nahe, daß er sich kurz vor der Vervollkommnung einer genialen Zugfolge befunden hatte, die ihm in vier Zügen den Sieg eingebracht hätte, und sich die Idee zu diesem einmaligen Geniestreich nun in alle vier Winde aufgelöst hatte, da sie vom Kapitän unterbrochen worden waren.
»Nein«, antwortete er griesgrämig. »Liegt das in Italien?«
»Nein, aber trotzdem vielen Dank«, entgegnete der Kapitän.
»Ich weiß, wo Dounreay liegt«, erwähnte der Koch fast beiläufig.
Vanderdecker starrte ihn verdutzt an. Es war zwar schon an sich bemerkenswert, daß ihn überhaupt noch irgend etwas überraschen konnte, aber daß der Koch eventuell etwas wußte, kam einer Sensation gleich. Das letztemal, daß sich der Koch bewußt hilfsbereit gezeigt hatte, war zu dem Zeitpunkt gewesen, als Sebastian van Doorning eine kurze Phase durchlebt hatte, während der er sich andauernd die Pulsadern aufschneiden wollte. Fürsorglich hatte ihm der Koch eigens dafür eines seiner besten Messer geliehen.
»Wirklich?« hakte Vanderdecker ungläubig nach.
»Ja!« antwortete der Koch beleidigt. »Das liegt an der schottischen Nordküste.«
Vanderdecker runzelte die Stirn. »Und woher weißt du das?«
»Ich bin dort geboren«, entgegnete das einzige nicht-holländische Besatzungsmitglied. »Es ist schon ein Elend, denn mittlerweile hat man mitten auf dem Ort einfach irgendein Atomkraftwerk errichtet. Typisch …«
Das war allerdings typisch, sagte sich Vanderdecker, denn der Koch schien das Elend in jedweder Form magisch anzuziehen, wahrscheinlich weil es sicher sein konnte, bei ihm stets willkommen geheißen zu werden.
»Dann wirst du mir ja bestimmt sagen können, wie man da hinkommt, oder?« fragte
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