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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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kann.«
    Er starrte mich mit offenem Mund an und hatte die Stirn in tausend Falten gelegt. »Wie bitte?«, fragte er.
    »Die Eidechse«, sagte ich.
    Er starrte mich noch einen Moment an. Dann machte er sich wieder ein paar Notizen. Aber plötzlich sah er wieder auf und fragte: »Also war es schon früher so, als du noch ganz klein warst, dass du in etwas so Harmlosem wie einer Eidechse lauter schlimme Dinge gesehen hast – das Böse und Angst und … ja, diese … Schwärze?«
    Jetzt starrte ich ihn stirnrunzelnd an. »Was meinen Sie denn damit«, fragte ich. »Welche Schwärze?«
    Aber er schüttelte nur wortlos den Kopf. Da wusste ich, dass er mit Wilson über mich geredet hatte; der So zialbetreuer und der Obermutant hatten ihre Notizen verglichen. Doch mich hatte noch keiner wegen der Schwärze gefragt!
    Es war in der Beratungsstelle; da gab es zum Beispiel diese blöde Kunsttherapie. Wilson kam immer mal wieder vorbei, um sich meine Bilder anzuschauen. Dann stand er hinter mir und blickte mir schweigend über die Schulter. Manchmal ging er mit einem meiner Bilder zum Kunsttherapeuten und dann unterhielten sie sich leise und der eine sah gelegentlich zu mir her und der andere nickte. Aber mich fragte niemand. Kein Mensch kam zu mir und fragte: »Sag mal, Raymond, warum verwendest du eigentlich in deinen Bildern immer nur Schwarz ?«
    Stattdessen betrachteten sie mit viel sagendem Nicken all die schwarzen Dinge, die ich malte – die schwarze Sonne, den schwarzen Mond, die schwarzen Bäume, den schwarzen Schnee – und kamen zu dem Schluss, dass ich auf diese Weise zum Ausdruck brachte, welche Schwärze in meinem Innern herrschte. Aber in meinem Innern war es gar nicht schwarz, und wenn ich gefragt worden wär, hätte ich es ganz leicht erklären können: Da ich ganz hinten saß und alle andern Kinder größer waren als ich, kam ich jedes Mal als Letzter an die Schachtel mit den Wachsmalkreiden und kriegte nur noch das doofe Schwarz ab. Doch keiner kam je auf die Idee, mich danach zu fragen.
    Die sahen immer nur das, was sie sehen wollten. Und als die Beurteilung abgeschlossen war und sie ihr Persönlichkeitsprofil erstellt hatten, erklärte Wilson meiner Mam, dass ich viel besser in die fürsorgliche, verständnisvolle Atmosphäre einer Förderschule passen würde.
    Die Schule heiße Sunny Pines, sagte meine Mam. »Klingt doch hübsch, Sunny Pines, oder?«, fragte sie.
    Aber ich fand, dass es überhaupt nicht hübsch klang. Es klang wie ein Geruchsvertilger fürs Klo. Da wollte ich nicht hin.
    Ich hatte die Sonderschüler schon manchmal gesehen. Man erkannte sie gleich, weil sie nicht im normalen Bus mitfuhren, sondern an der Parkbucht auf ihren privaten Kleinbus warten mussten. Und die Sonderschüler wurden immer gehänselt; sie wurden angespuckt und als Dumpfbacken und Spatzenhirne beschimpft – von all den netten, normalen Kindern, die nette, normale Schulen besuchten; haut ab in eure Deppenschule!, hieß es immer. Und in der Sonderschule war es grauenhaft, weil alle Lehrer furchtbar streng und böse waren; das mussten sie auch sein, dort gab es nämlich richtig große Jungs, die sich sogar mit den Lehrern anlegten, ganz zu schweigen von den kleinen Erstklässlern, die sie zu furchtbaren Dingen zwangen und in der Pause verprügelten. Ich wollte nicht verprügelt werden. Ich wollte auf gar keinen Fall in so eine Schule. Und ich wäre auch nie hingegangen und hätte mich strikt geweigert, wenn nicht meine Oma krank geworden wär und meine Mam sich so große Sorgen um sie gemacht hätte. Das war, nachdem meine Oma aus Schottland zurückgekommen war. Ich hatte schon sehnlichst auf ihre Rückkehr gewartet, denn ich wusste, wenn meine Oma hörte, dass meine Mam mich auf eine Sonderschule schicken wollte, würde sie ausrasten und meine Mam fragen, ob sie denn wahnsinnig geworden sei, mich mit all diesen Dyslektikern, Neurotikern und sonstigen Problemfällen in die gleiche Schule zu schicken? Meiner Oma wäre es schnurzegal gewesen, dass man das heute »Förderschule« nennt. Sie würde sagen: »Ja! Und Wasser nennt man neuerdings Perrier. Aber dass es ein bisschen sprudelt und einen schicken französischen Namen hat, ändert doch nichts dran, dass es nass ist!«
    Doch es kam alles anders; denn als meine Oma aus Schottland zurückkehrte, war sie nicht mehr so wie früher. Mr. McGough, der die Progressiven Pensionäre leitete, besuchte meine Mam und erzählte, es sei ganz schrecklich gewesen. Die Progressiven

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