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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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würde etwas wahnsinnig Lebendiges durch meine Adern pulsieren, als sei ich der Mittelpunkt des Universums; als sei ich unsterblich!
    Und dann, viel zu schnell, war alles vorbei, und der Schlussakkord hallte noch nach und hing sekundenlang wie ein magischer Nebel im Bus, bevor er sich auflöste. Und da erst bemerkte ich das ohrenbetäubende Dröhnen absoluter Stille.
    Einen Moment dachte ich, die Leute seien genauso ergriffen wie ich und scheuten sich nach einem so atemberaubenden Auftritt einfach zu applaudieren. Aber dann merkte ich, dass mich alle fürchterlich feindselig anstarrten. Und in diesem Moment dämmerte es mir, was ich gerade gesungen hatte. Ich stand vor einem Publikum aus lauter Einzelhändlern, kleinen Ladenbesitzern, rechtschaffenen Rotariern und ihren Ehefrauen und diese Gesellschaft hatte sich soeben den Text von »Shoplifters of the World Unite« – Ladendiebe aller Länder, vereinigt euch – anhören müssen!
    Ich nuschelte vor mich hin, ich würde ihnen noch einen anderen Song vortragen, diesmal vielleicht etwas Passenderes, aber da sprang Walter wie von der Tarantel gestochen von seinem Sitz auf und sagte: »Unterstehen Sie sich! Ich glaube, wir haben genug gehört, Bursche, uns reicht’s!«
    Und irgendwie fand ich es schrecklich, dass sie jetzt alle wütend auf mich waren.Wenn ich nicht so nervös gewesen wär, hätte ich doch niemals ausgerechnet diesen Song in dieser Umgebung gesungen! Ich versuchte den Schock etwas zu mildern und sagte: »Ich wollte niemanden vor den Kopf stoßen! Im Grunde ist dieser Text eher satirisch und ironisch gemeint!«
    Aber Walter schüttelte den Kopf und sagte, in Grimsby bräuchten sie keine Satire und Ironie. »Für mich ist das nichts als Anstiftung zum Diebstahl!«, meinte er. »Kein Wunder, dass wir alle immer mehr mit Ladendiebstahl zu kämpfen haben, wenn so verkommene Subjekte wie Sie Diebstahl und Raub auch noch rechtfertigen!«
    »Aber das tu ich doch gar nicht!«, rief ich.«Ehrlich!«
    Doch er nahm keine Notiz von mir, und jetzt rief jemand von weiter vorn, man solle anhalten und mich rauswerfen. Und ein anderer schlug vor, mich rauszuwerfen, ohne anzuhalten!
    Und ich glaube, die hätten das wirklich gemacht, wenn Walter nicht beschwichtigend die Hand gehoben hätte. »Na, na, na!«, sagte er. »So weit wollen wir uns doch nicht herablassen, Herrschaften! Bloß weil da einer keine Manieren hat, sollten wir uns nicht gleich auf dieselbe Stufe mit ihm begeben! Vergesst nicht, dass wir aus Grimsby stammen! Und wir Grimsbyer sind über eine Provokation wie diese doch wohl erhaben!«
    Er sah mich an, als sei er gerade in einen Kackhaufen getreten. Dann sagte er: »Komm, Janine.« Er ließ mich einfach stehen, steuerte mit seiner Frau nach vorn auf zwei leere Sitze zu und rief der hochtoupierten Tina zu, nach diesem deprimierenden Zwischenfall wären bestimmt alle froh, wenn sie jetzt etwas Positives und Erhebendes anstimme, zur Erinnerung an den wahren Geist von Grimsby.
    Ich packte meine Gitarre wieder ein und sank, während die hochtoupierte Tina mit leidenschaftlicher Stimme »Abide with Me« schmetterte, auf meinen Sitz zurück. Da saß ich dann, als hätte ich mich plötzlich in den Sohn Satans verwandelt.
    Das einzig Gute war, dass mich jetzt alle in Ruhe ließen. So konnte ich mein Songbook aus der Tasche ziehen, Morrissey, und dir schreiben. Und komisch: Obwohl ich mich in diesem feindseligen Bus sehr unbehaglich fühlte, blieb das warme, glühende Gefühl in mir, Morrissey, das mich durchströmt hatte, als ich deinen Song spielte. Ich weiß natürlich, dass ein einziger Song – noch dazu in einem Bus voller aufgebrachter, stinksaurer Ladenbesitzer und Einzelhändler – wohl kaum als Auftritt bezeichnet werden kann. Und wahrscheinlich ist es unerhört dreist, die kleine Darbietung im selben Atemzug mit deinen eindrucksvollen Auftritten zu nennen. Aber das Entscheidende, Morrissey, ist: Ich hab es gespürt! Ich hab gespürt, was es heißt, dazustehen und zu singen. Und irgendwie hab ich verstanden, wie es für dich sein muss, was du empfindest, wenn du auf der Bühne stehst und dich in diese andere Person verwandelst, als würdest du die Haut deines wirklichen Ichs abstreifen, um jemand oder etwas ganz anderes zu werden. Das ist wie mit den Behinderten, die ich schon manchmal im Freibad gesehen hab, Morrissey. Die haben alle ganz unbeholfene, steife Bewegungen und scheinen sich in ihrem Körper total fremd zu fühlen. Und als ich das erste Mal

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