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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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beobachtete, wie man sie in ihren Rollstühlen zum Schwimmbecken karrte, kam mir das dumm und grausam vor. Sie wirkten sehr ängstlich, und auch ich hatte Angst um sie und glaubte, sie fänden es schrecklich, in das Becken zu müssen. Aber kaum waren sie drin, Morrissey, lächelten sie und strahlten und schimmerten vor lauter Schönheit; das Wasser wusch alles Unbeholfene von ihnen ab und befreite den Menschen, der eigentlich in ihnen steckte.
    Und so geht es einem ja manchmal, Morrissey, nicht wahr? Manchmal stellt sich heraus, dass gerade das, wovor man sich am meisten fürchtet, gar nicht so schlimm ist, und man merkt, dass man gleiten und schwimmen kann und nicht im dunklen, bedrohlichen Wasser untergeht. So wie ich mich vor der Sonderschule gefürchtet hab.
    Meine Mam sagte: »Das ist keine Sonderschule! Heutzutage gibt es keine Sonderschulen mehr. Mr. Wilson hat mir alles genau erklärt. Es ist eine Förder schule, Raymond.«
    Ich starrte meine Mam mürrisch an, weil sie Wilson erwähnte. Er hatte nie etwas von einer Sonderschule gesagt. Ich hatte geglaubt, ich würde einfach nur eingeschätzt, um in eine andere normale Schule zu gehen. Wenn ich gewusst hätte, dass die mich in so eine scheiß Sonderschule schicken wollten, wär ich nie zu dieser verdammten Beratungsstelle gegangen und nie zu diesem scheiß So zialbetreuer! Und wenn er nicht genau bei Blockbusters aufgetaucht wäre, hätte er vielleicht sowieso einen ganz anderen Eindruck von mir gekriegt. Meine Mam dachte erst, er sei der Fensterputzer. Er kam in Jeans und trug einen Pullover, den sie nicht mal bei der Kleidersammlung annehmen würden. Aber dann sagte er, er sei der Sozialbetreuer von der Schule. Er meinte, es wär vielleicht ganz gut, wenn er mit mir mal unter vier Augen sprechen könnte. Meine Mam verstand den Wink und ging einkaufen. Wär ich bloß mitgegangen! Er stand also mitten im Zimmer und sagte: »So! Schalten wir jetzt vielleicht mal den Fernseher aus, Raymond?«
    Keine Ahnung, warum er überhaupt fragte, denn bevor ich antworten konnte, hatte er sich schon die Fernbedienung geschnappt und den Bescheuerten Bob und die Blockbusters ausgeschaltet.
    »Es ist sehr unhöflich, Raymond«, sagte er, »vor dem Fernseher zu sitzen, wenn man Besuch hat.«
    »Nicht halb so unhöflich, wie in ein fremdes Wohnzimmer zu kommen und einfach den Fernseher auszuschalten!«, gab ich zurück.
    Doch er ging nicht drauf ein, sondern sagte: »So! Jetzt wollen wir uns mal bekannt machen, Raymond. Ich bin Neville.«
    Ich schaute ihn bloß an! Er nickte, als wolle er mich aus der Reserve locken. »Und?«, fragte er. »Und?«
    »Und was?«, erwiderte ich.
    »Und wie heißt du ?«, fragte er.
    Ich runzelte die Stirn.
    »Na los«, sagte er, »willst du dich mir nicht vorstellen, Raymond?«
    Ich wurde allmählich besorgt! Der war wohl nicht ganz dicht.
    »Na los«, wiederholte er, »sag mir, wer du bist.«
    »Sie wissen doch, wer ich bin!«, erwiderte ich.
    Aber er schüttelte grinsend den Kopf und sagte: »Nein, Raymond, das glaube ich nicht.«
    »Aber sicher!«, sagte ich. »Sie haben mich doch schon dreimal beim Namen genannt.«
    Aber er schüttelte immer noch dämlich grinsend den Kopf.
    »Hast du gewusst, Raymond«, sagte er, »dass die Ureinwohner von North Dakota glaubten, wenn man jemandem seinen Namen nennt, macht man ihm ein Geschenk? Hast du das gewusst?«
    Ich starrte ihn nur an.
    Er nickte. »Tja, so ist das«, sagte er. »Wenn jemand dem andern seinen Namen nennt, macht er ihm das Geschenk der Freundschaft; er erklärt, dass er keine Feindseligkeit empfindet. Und deshalb fände ich es sehr gut, Raymond, wenn du dich mir vorstellen könntest. Also, versuchen wir’s noch mal? – Ich bin Neville.«
    Ich zuckte die Achseln.
    »Und ich bin genervt!«, sagte ich.
    Ich dachte, das würde ihn zum Schweigen bringen, aber er schien eher erfreut. Er setzte sich, schlug seinen Ordner auf und sagte: »Siehst du, Raymond, Feindseligkeit. Du begegnest mir mit Feindseligkeit, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    Er nickte ebenfalls und fuhr fort: »So. Vielleicht versuchen wir jetzt mal, das ein wenig genauer zu erforschen, Raymond. Hast du eine Ahnung, warum du solche Aggressionen gegen mich empfindest?«
    »Ja!«, sagte ich. »Ich wollte Blockbusters sehen, aber Sie haben den Fernseher ausgemacht!«
    Er sah mich an und nickte. »So. Wollen wir das vielleicht mal ein bisschen genauer untersuchen?«, fragte er. »Im Grunde hast du gerade Folgendes gesagt: Wenn du die

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