Der Fliegenfaenger
Stickereien!«
»Ich fand sie überhaupt nicht langweilig«, widersprach Twinky. »Ich hätte mich stundenlang mit ihr unterhalten können. Ich sticke nämlich auch!«
»Ach so?«, sagte die Pflegerin und betrachtete Twinky von oben bis unten wie einen Haufen Dreck. »Na ja! Jedem Tierchen sein Pläsierchen.«
Twinky hob den Kopf, reckte das Kinn vor und drehte eine elegante Pirouette. Aber sie ignorierte ihn und sagte zu mir: »Komm, ich zeig dir jetzt, wo deine Oma ist.«
Und sie öffnete die Tür und führte uns in den großen Tagesraum.
Ich konnte meine Oma nirgends entdecken, weil wir ganz hinten standen, hinter den im Tagesraum zusammengepferchten Senioren. Sie saßen in Sesseln oder Rollstühlen und jeder hielt eine Schnur umklammert, an der ein Luftballon schwebte. Vorn auf einem kleinen Podium stand eine dieser Folkbands, bei denen die Männer lange Rauschebärte tragen und die Frauen dünnes strähniges Haar und kein Make-up. Richtig kernige Typen. Gerade rief der Boss der Band den alten Leuten zu: »So, Kinder, wir machen uns heute mal einen richtig netten Nachmittag zusammen! Okay, jetzt erst mal einen Riesenapplaus, weil wir hier heute Nachmittag einen Mordsspaß zusammen haben!«
Aber ich glaube kaum, dass die alten Leute einen »Mordsspaß« hatten. Die Einzigen, die jubelten und klatschten, waren die zahlreich vertretenen Pflegerinnen. Die Senioren, soweit sie nicht sowieso vor sich hindösten, starrten den bärtigen Barden gleichgültig an. Aber das schien ihn nicht aus dem Konzept zu bringen, denn jetzt reckte er triumphierend die Faust empor und rief: »Jaaa Kinder! Genau! Einen Mordsspaß! Wir lassen’s heute mal so richtig krachen, Kinder, stimmt’s oder hab ich Recht? Und zum Beweis, wie viel Spaß wir heute hier zusammen haben, möcht ich doch gleich mal sehen, wie alle ihre schönen bunten Luftballons wackeln lassen! Auf die Plätze, fertig los! Eins, zwei, drei – wackelt mit den Luftballons!«
Aber das hätte er sich sparen können! Die meisten Senioren hatten dermaßen zittrige Hände, dass die scheiß Luftballons sowieso die ganze Zeit wackelten. Doch nicht mal das schien ihm aufzufallen, denn er feuerte sie dauernd an: »Prima! Prima! So ist’s recht! Wackelt mit den Luftballons, wackelt mit den Luftballons, jaaa, das wird heute’n Mordsspaß hier, wir lassen’s heute mal so richtig krachen!«
Und jetzt stimmte die Band einen grauenhaften Song über einen wilden Vagabunden an, der sein Vagabundenleben an den Nagel hängen wollte.
Twinky, der neben mir stand, sah mich an. »Fliege«, sagte er, »ich glaub, mir kommt’s gleich hoch!«
Und Norman starrte auf diese kernigen Kotzbrocken, die im weiteren Verlauf des Songs immer kerniger und ekelhafter wurden, und sagte: »Scheiße, warum hat man nie ein Maschinengewehr zur Hand, wenn man eins braucht!?«
Und dann dachte ich einen Moment verblüfft, es habe wirklich jemand eine Waffe dabei, denn plötzlich gab es einen lauten Knall, und alle zuckten zusammen. Aber es stellte sich rasch heraus, dass nur ein Ballon geplatzt war, und eine Pflegerin ging vor, um nachzusehen.
Kurz darauf hörte ich sie schelten, als habe sie es mit einem unartigen Kind zu tun: »Also, Vera! Haben Sie das etwa mit Absicht getan? Das ist aber wirklich nicht nett von Ihnen! Jetzt schauen Sie nur, was Sie mit Ihrem schönen Luftballon gemacht haben!«
Und plötzlich hörte ich die Stimme meiner Oma: »Scheiß auf den blöden Luftballon!«
Und dann sah ich sie; sie stand ganz vorn und schlängelte sich jetzt zwischen den Stühlen durch, die Pflegerin ihr auf den Fersen. »Vera!«, mahnte die Pflegerin, »wo wollen Sie denn hin? Das Konzert ist doch noch nicht zu Ende, Vera!«
Aber man sah, dass meine Oma diesbezüglich ganz anderer Meinung war. Mit finsterer Miene strebte sie zur Tür und meinte: »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht herkommen wollte. Diese scheiß Luftballons! Dieses idiotische Gesinge! Ich hör mir das nicht länger an. Nein, ganz bestimmt nicht. Nein!«
Twinky, Norman und ich standen an der Tür. Und als meine Oma uns erreicht hatte, traten Twinky und Norman beiseite, um sie vorbeizulassen. Aber ich blieb einfach stehen, bis meine Oma aufsah und mich direkt anstarrte. Da sagte ich lächelnd: »Hallo, Oma!«
Aber meine Oma starrte mich nur an. Sie stand ganz krumm da und sah jetzt wirklich aus wie eine alte Frau. Argwöhnisch beäugte sie mich, dann schüttelte sie finster den Kopf und drängte sich an mir vorbei zur Tür
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