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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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klar«, sagte mein Onkel Jason, als sie auf den Parkplatz bogen. »Schau dir mal dieses wunderschöne Gelände an, diesen hübschen Rasen! Na komm, jetzt steigen wir aus und machen erst mal einen kleinen Spaziergang.«
    Und wenn meine Oma nicht völlig vergessen hätte, wer sie war, dann hätte sie es gemerkt – gleich nach dem Aussteigen, als sie über den Rasen gingen und es von hochbetagten Menschen nur so wimmelte; manche klammerten sich an einen Gehwagen, andere wurden von Pflegerinnen im Rollstuhl geschoben. Aber meine Oma merkte nichts. Sie trottete folgsam über den »Schlossrasen«. Und erst als sie aufsah und plötzlich merkte, dass mein Onkel und meine Tante verschwunden waren, reagierte sie ein bisschen verstört. Und als sie die beiden im Laufschritt zum Parkplatz eilen sah, geriet meine Oma dann doch in Panik. Denn sie erinnerte sich zwar nicht mehr genau, wer die beiden waren, aber sie wusste, dass sie eigentlich bei diesen zwei Personen sein sollte, die jetzt rasch ins Auto stiegen und ohne sie davonbrausten. Meine Oma geriet also in Panik, rief hinter ihnen her und weinte. Und sie war dankbar, als zwei nette Pflegerinnen kamen, sie trösteten und ins Haus führten. Dort bekam sie eine Tasse Tee, und die netten Pflegerinnen wussten sogar, wie meine Oma hieß. Und dann fragte die eine, ob sie jetzt vielleicht ihr Zimmer sehen wolle. Meine Oma sagte, ja, das wäre sehr schön. Und nur ganz selten, wenn einen winzigen Moment lang ihr Erinnerungsvermögen aufflackerte, wusste meine Oma noch, wer sie war und dass es sich bei diesem »Schloss« in Wirklichkeit um das Seniorenheim in Stalybridge handelte.

    Erst machte meine Mam einen Riesenstunk. Sie wollte sofort nach Stalybridge fahren und meine Oma dort rausholen! Aber Tante Fay und Onkel Jason, diese heuchlerischen, scheinheiligen Lügner, stellten es so dar, als sei das Seniorenheim in Stalybridge eine Art Paradies für Pensionäre, in dem meine Oma einen glücklichen Lebensabend verbringen würde, gehegt und gepflegt von engelsgleichen Pflegerinnen, ergötzt und vergnügt durch ein abwechslungsreiches Tagesprogramm, zu dem unter anderem Aquarell-, Ikebana- und Tanzkurse zählten sowie unterhaltsame Besuche von Künstlern aus der näheren Umgebung, etwa von Zauberern, Märchenerzählern und Folkloregruppen. Eigentlich hätte meine Mam wissen müssen, dass das für meine Oma die Hölle auf Erden bedeutete.
    Doch meine Mam war durch die mühevolle Pflege meiner Oma ausgelaugt und erschöpft. Deshalb räumte sie nach einer Weile widerstrebend ein, es sei vielleicht wirklich das Beste, wenn sich professionelle Pflegekräfte um meine Oma kümmerten. Onkel Jason und Tante Fay konnten kaum ihr zufriedenes Feixen unterdrücken. Und ich weiß, Morrissey, ich weiß, ich hätte damals besser aufpassen müssen.
    Wenn ich weniger mit mir selbst beschäftigt gewesen wär, hätte ich genau gesehen, was meine verlogenen Verwandten im Schilde führten und dass sie meine Oma nur deshalb in ein Pflegeheim steckten, damit sie sich ihr Häuschen unter den Nagel reißen und es verkaufen und das Geld dann für einen Super-Luxus-Winterurlaub an den Silberstränden der Seychellen verprassen konnten. Wenn ich aufmerksamer gewesen wär, hätte ich gemerkt, was die verkommenen Verräter im Schilde führten, und hätte meine Mam warnen können.
    Aber ich war nicht aufmerksam, Morrissey. Ich passte nicht auf. Denn es interessierte mich nicht mehr, Morrissey. Aus heutiger Sicht kommt mir das schrecklich vor, aber damals, als ich noch in Sunny Pines war, fast vierzehn Jahre alt, interessierten mich die Probleme meiner Mam eigentlich kaum noch; meine Mam, Tante Fay, Onkel Jason, die waren einfach … da wie die Tapete und der Teppich und die Dreizimmerwohnung. Und genauso wenig, wie man auf die Tapete oder den Teppich achtet, achtete ich auf das, was bei uns zu Hause passierte.
    Selbst ihn beachtete ich kaum noch, Wilson, den Mutanten. Er hing ständig bei uns rum; schaute zum Tee oder einfach nur zum Plaudern vorbei. Manchmal brachte er meine Mam mit dem Auto nach Stalybridge. Und manchmal fuhr er auch einfach so mit ihr weg. »Deine Mam braucht mal ein bisschen Abwechslung, Raymond«, sagte er dann. Und eines Tages fragte er meine Mam sogar, ob sie nicht Lust hätte, ihn mal zu einem seiner Meetings zu begleiten; das würde sie doch ein bisschen ablenken. Heute ist mir klar, ich hätte besser aufpassen müssen.
    Aber das war alles so langweilig, Morrissey. Jedenfalls längst nicht

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