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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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Angst eingejagt hat, weil sie mich im Supermarkt zum Tanzen bringen wollte?«
    Meine Oma lächelte Twinky an. »Aber ich hab’s nicht geschafft, wie?«, sagte sie. »Nach der Sache mit dem Krippenspiel hast du ja nicht mehr getanzt.«
    »Aber jetzt tanzt er wieder, Oma«, sagte ich.
    Meine Oma sah Twinky an. »Komm«, sagte sie, »führ uns doch mal eine deiner Pirouetten vor.«
    Twinky erfüllte ihre Bitte, und meine Oma applaudierte mit leuchtenden Augen, als er durch den Korridor auf sie zuwirbelte und ihr schließlich in einem wunderbaren, wenn auch etwas theatralischen Knicks zu Füßen sank.
    Meine Oma bückte sich und half Twinky auf. Und er stand da und sah meine Oma an. Und an seinem Lächeln merkte ich, dass er hingerissen war. Aber jetzt spähte meine Oma wieder den Korridor entlang, wo immer noch Norman stand. Man merkte ihm an, wie unbehaglich und nervös er sich fühlte.
    »Und was ist mit dir?«, fragte meine Oma. »Du siehst ja aus, als hättest du eine Zitrone ausgelutscht, Junge. Was fehlt dir denn?«
    Norman zuckte die Achseln und stammelte: »Ich … es ist nur … ach, sch … ich bin nur … ich mag es nicht!«
    »Norman hat ein bisschen Angst, Oma«, erklärte ich, »weil es ihm hier drin nicht gefällt. Er hat ein bisschen Angst vor diesen vielen alten Leuten.«
    »Das kann ich ihm nicht verübeln!«, sagte meine Oma. »Ich hab ja selber Angst vor denen. Aber ich sag euch mal was, die machen mir nicht halb so viel Angst wie die Pflegerinnen!« Jetzt packte mich meine Oma am Arm und hielt mich fest umklammert. Sie wirkte auf einmal ganz jämmerlich. »Die wollen mich dauernd unterhalten!«, klagte sie. »Die wollen uns dauernd zum Lachen bringen! An meinen vergesslichen Tagen geht’s ja noch, da ist es mir egal. Aber dann hab ich zwischendurch Tage wie heute, und diese Pflegerinnen lassen einfach nicht locker, Raymond, die wollen mich dauernd zum Lachen bringen!«
    Ich streichelte ihren Arm. »Jetzt ist es ja gut, Oma«, sagte ich. »Jetzt sind wir ja da. Und wir wollen dich auf keinen Fall zum Lachen bringen, stimmt’s Twink?«
    Twinky schüttelte den Kopf und sah meine Oma sehr ernst an, bis sie erleichtert sagte: »Ihr seid gute Jungs, alle drei, gute Jungs!«
    Dann warf sie wieder einen Blick auf Norman und meinte: »Bei ihm besteht garantiert nicht die Gefahr, dass er sich plötzlich albern und oberflächlich benimmt, oder?«
    »Komm!«, rief sie Norman zu. »Komm mit in mein Zimmer, Norman, dann essen wir ein paar Garibaldis!«
    Norman kam langsam auf uns zugetrottet. Meine Oma wartete. Und als er bei uns angekommen war, nahm sie ihn am Arm. Ich sah, wie schwierig es für Norman war, von einem alten Menschen angefasst zu werden, und wie unbehaglich er sich fühlte. Aber er zog seinen Arm nicht weg. Und meine Oma hielt ihn fest und sagte zu uns: »Ihr solltet Norman nicht auslachen! Nur weil er sich nicht so gern bei alten Leuten aufhält, solltet ihr ihn nicht auslachen!«
    »Tun wir auch gar nicht, Oma«, antwortete ich. »Wir lachen Norman nie aus.«
    »Das wär auch nicht nett von euch«, sagte sie. »Denn Norman hat ganz Recht, wenn er sich fürchtet. Und wisst ihr auch, warum? Wisst ihr, warum Norman sich hier fürchtet?«
    Twinky und ich schüttelten den Kopf.
    »Weil Norman ihn spürt«, sagte meine Oma, »weil er ihn überall um sich herum spürt.«
    »Wen denn, Oma?«, fragte ich. »Wen soll Norman spüren?«
    »Den Tod!«, antwortete meine Oma. »Den Tod!«
    Twinky und ich standen da und starrten meine Oma an. Aber sie nickte und sagte: »O ja, er ist überall! In so einem Heim ist er überall, in den Wänden, in der Luft, überall. Und deshalb hat Norman Angst und fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Hab ich Recht, Norman?«
    Norman starrte auf meine Oma hinunter. Dann senkte er langsam den Kopf und nickte. Und meine Oma fuhr fort: »Natürlich hab ich Recht. Und wer könnte es dir verübeln? Ein Junge wie du, voller Leben. Du hast jedes Recht der Welt, Angst zu haben, Norman. Wenn man noch so jung und lebendig ist wie ihr, da will man doch nicht bei denen sein, die fast am Ende angelangt sind und bald sterben werden! Für Jungen in eurem Alter«, schloss meine Oma, »ist der Tod doch bloß ein dummes Arschloch!«
    Norman starrte meiner Oma ins Gesicht. Er lächelte sogar ein bisschen, als er diesen Kraftausdruck hörte. Und ich wusste, dass ihn meine Oma erobert hatte, denn als sie jetzt seinen Arm losließ, um in ihr Zimmer zu gehen, nahm Norman rasch ihre Hand und legte

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