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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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sondern Schmalzbrot und Grütze und saftige Schweinshaxen aßen, was ihnen auch viel besser bekam, und damals gehorchten die Kinder noch in der Schule und sangen Kirchenlieder und sagten Gedichte auf und konnten mit sieben Jahren lesen und rechnen und ließen sich liebend gern sechs Stockhiebe geben, weil sie wussten, dass es ja nur zu ihrem Besten war und ihnen half, zu anständigen, tugendhaften, moralisch hoch stehenden, von Gemeinschaftsgeist erfüllten, Zucker borgenden, Kopftuch tragenden frommen Samaritern zu werden, wie sie noch vor wenigen Jahren jene Welt bevölkert hatten, an die sich zahlreiche aufrechte Bürger so gern und so genau erinnerten, dass sie den starken Drang verspürten, andere Leute über den lokalen Radiosender an ihren tief schürfenden Einsichten teilhaben zu lassen.
    Ich saß nur da, starrte in meinen Kaffee und dachte an meine Oma. Meine Oma war nämlich der einzige mir bekannte alte Mensch, der immer sagte, dieses Geseire von der guten alten Zeit sei völliger Mist. Meine Oma hat immer gesagt, das mit der guten alten Zeit sei doch bloß sentimentaler Quatsch, den sich solche Leute ausdenken, die sich vor dem Heute fürchten.
    Aber sie liebe das Heute, sagte meine Oma immer, und sie wär so gern heute noch mal jung gewesen, weil sie dann nämlich all ihre BHs verbrannt und an Protestmärschen mit Germaine Greer teilgenommen und in einer eigenen Londoner Wohnung gelebt hätte, und dort hätte sie mit ihren Freunden Nouvelle Cuisine gekocht, mit Freizeitdrogen experimentiert und über Simone de Beauvoir und andere wichtige Themen diskutiert.
    Ich sagte dann immer: »Wer weiß, Oma, vielleicht kommt das ja alles noch.«
    Aber sie tätschelte mir den Kopf und meinte, letztlich mache einem immer die Zeit einen Strich durch die Rechnung. Und sie wünsche den jungen Mädchen mit ihrer schönen glatten Haut und ihrem glänzenden Haar alles Gute, aber wahrscheinlich sei es ein bisschen zu spät, in ihrem Alter noch mit Bodypiercing und Ecstasy anzufangen.
    »Doch eines kannst du mir glauben, Kind«, sagte sie, »wenn ich in der heutigen Zeit noch mal jung wär, dann würde ich nicht noch mal die gleichen Fehler machen. Mit ihm hätte ich mich zum Beispiel gar nicht erst eingelassen. Ich hätte ihn nie geheiratet, diesen vergnügungssüchtigen Schürzenjäger!«
    Meine Oma hasste meinen Opa. Selbst nach seinem Tod empfand sie keinerlei Sympathie für ihn. Ihrer Meinung nach hatte der alte Lustgreis den tragischen Tod, in den ihn seine Geilheit getrieben hatte, hundertprozentig verdient: Mein Großvater war vom Dach gestürzt, als er eine Satellitenschüssel montieren wollte, um die vom Festland ausgestrahlten Sexfilme und Porno-Gameshows empfangen zu können. Alle hatten ihm geraten, lieber einen Monteur zu rufen. Aber der Elektriker hätte frühestens am nächsten Dienstag Zeit gehabt und mein Großvater gierte so sehr nach der Pornografie vom Festland, dass er sich vor lauter Ungeduld und gegen alle gut gemeinten Ratschläge zu Do-it-yourself entschloss. Es gelang ihm auch tatsächlich, die Schüssel am Kamin zu montieren. Doch die lasziven Gedanken an die europäischen Erotika, die er schon bald mit seiner Satellitenschüssel empfangen würde, erregten ihn so sehr, dass er ausrutschte, vom Dach fiel und sich den Hals brach. Aber die Satellitenschüssel hatte er perfekt montiert; meine Oma saß im Wohnzimmer und schaute sich gerade einen belgischen Dokumentarfilm über Lebensmittel und Sadomasochismus an in der Meinung, es handle sich um Welsh Channel 4. Als mein Großvater schreiend vom Dach stürzte, achtete meine Oma gar nicht drauf, weil sie glaubte, es sei der Soundtrack des Films, wo sich gerade jemand mit einer Topinamburknolle geißelte. Und als meine Oma dann irgendwann ausschaltete – nachdem man ihr mit Chilischoten und Zucchini noch ein paar Tricks vorgeführt hatte, die der Fernsehköchin Delia Smith nicht mal in ihren kühnsten Träumen eingefallen wären -, war mein Großvater nur noch eine mausetote Leiche auf der Terrasse.
    »Er lebte von Sinnenlust und er starb durch Sinnenlust!«, pflegte meine Oma zu sagen. »Jetzt bist du noch zu jung, Raymond«, sagte sie. »Doch eines Tages wirst du verstehen, was ich meine.«
    Aber ich verstand es schon damals. Denn als ich im letzten Vorschuljahr war, hatte mein Großvater plötzlich angeboten, mich jeden Tag zur Schule zu bringen. Meine Mam glaubte, er sei auf seine alten Tage einfach ein bisschen netter geworden und wolle sein

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