Der Fliegenfaenger
Tragödie der Welt«, erklärte meine Oma. »Sie hatte den falschen Mann geheiratet.«
Meine Oma stand mit den Tellern da und nickte ernst. »Und diese Worte, Raymond«, sagte sie, »hätte Thomas Hardy genauso gut über mich schreiben können!«
Ich räumte die Tassen und Untertassen zusammen und folgte meiner Oma in die Küche.
»Weißt du, wen ich hätte heiraten sollen, Raymond?«, fragte sie, als sie Wasser in die Spülschüssel laufen ließ.
»Ja, Oma«, sagte ich. »Du hättest Jean-Paul Sartre heiraten sollen.«
»Genau«, bestätigte meine Oma. »Genau. Jean-Paul Sartre, den hätte ich heiraten sollen. Seine Bücher konnte ich nicht lesen, aber seinem Foto hab ich gleich angesehen, dass er kein oberflächlicher Mensch war.«
Meine Oma begann die Teller abzuspülen und ich holte mir ein Geschirrtuch und trocknete ab.
»Und ich hab immer gesagt, Raymond, ich hab immer gesagt, mein Junge, dass du selbst ein bisschen wie Jean-Paul Sartre bist. Ihr seid beide nicht oberflächlich. Deshalb verstehst du mich auch, mein Junge, deshalb kann ich mich mit dir unterhalten.«
Und meine Oma hatte Recht; ich verstand sie und unterhielt mich sehr gern mit ihr, obwohl sie eigentlich die ganze Unterhaltung allein bestritt.
Jetzt sagt meine Oma nichts mehr. Und daran sind mein Drecksonkel Jason und meine fiese Tante Fay schuld; die hatten es nämlich auf die Satellitenschüssel und das Häuschen meiner Oma abgesehen. Und deshalb haben sie meine Oma weggesperrt in das Seniorenheim in Stalybridge. Es war alles ihre Schuld. Nichts von all dem wär passiert, wenn ich mit meiner Oma hätte reden können: Ich wär nicht in diesen ganzen Schlamassel geraten und hätte meiner Mam nicht so viel Kummer gemacht. Meine Oma hatte immer Verständnis für mich. Und sie hätte nie zugelassen, dass jemand schlecht über mich redet. Selbst nach dem, was damals am Kanal passiert ist.
Und deshalb wär vieles nicht passiert, wenn meine Oma noch da gewesen wär.
Zum Beispiel müsste ich jetzt nicht in dieses grauenhafte Grimsby fahren, wenn meine Oma noch da wär.
Beim Gedanken an Grimsby blickte ich auf und merkte, dass ich immer noch in diesem scheiß Burger-Banquet hockte. Ich musste ja schon eine Ewigkeit hier sein! Der Mann mit der Strickjacke war verschwunden und hatte seine Geisel mitgenommen. Ich muss jetzt auch dringend los. Ich hab meiner Mam versprochen, sie heute Abend anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich wohlbehalten angekommen bin. Jetzt ist es fast ein Uhr und ich sitz immer noch in Halifax fest. Deshalb hab ich beschlossen, es einfach zu riskieren. Ich bin nervös, weil ich so was normalerweise nie tun würde. Aber irgendwie muss ich ja nach Grimsby kommen.
Drück mir die Daumen, Morrissey, drück mir die Daumen.
Mit freundlichen Grüßen
Raymond Marks
Büro des Stationsvorstehers,
Bahnhof Halifax,
W. Yorks
Lieber Morrissey,
es hat nicht geklappt, Morrissey. Wie du obiger Adresse entnehmen kannst, bin ich hier ein bisschen aufgehalten worden.
Ich weiß jetzt, dass ich ein Idiot war. Ich weiß, ich hätte es auf keinen Fall tun sollen.
Ich wollte es ganz schlau anstellen und mir eine Bahnsteigkarte kaufen, damit ich wenigstens berechtigt bin, mich auf dem Bahnsteig aufzuhalten. Aber als ich die Karte am Schalter verlangte, saß da dieser blöde Angestellte von vorhin. Er sah mich total misstrauisch an.
»Ich hoffe, Ihnen ist klar«, sagte er, »dass das Besteigen eines Zuges ohne gültigen Fahrschein ein ernstes Vergehen darstellt.«
»Ich hab keineswegs die Absicht, in einen Zug zu steigen«, erwiderte ich.
»Und warum wollten Sie dann vorhin eine Fahrkarte nach Grimsby?«, fragte er.
»Ich wollte ja gar keine Fahrkarte nach Grimsby«, sagte ich, »ich wollte nur wissen, was es kosten würde, falls ich mal irgendwann nach Grimsby fahren wollte.«
Er schaute mich unschlüssig an. »Dann wollen Sie also nur jemanden abholen?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich und hielt mein Songbook hoch, »ich sammle die Nummern der Lokomotiven. Mein Hobby.«
Er sah mich an und plötzlich lachte er. »Ach so, das erklärt alles!«, meinte er, als er die zehn Pence einstrich und mir meine Bahnsteigkarte hinwarf.
Ich nahm sie und ging auf die Sperre zu, ziemlich deprimiert, weil er mich anscheinend allen Ernstes für jemanden hielt, der sich hobbymäßig Lokomotivnummern notiert.
Auf dem Bahnsteig wurde ich dann total nervös. Ich stand da und beäugte den Zug und das Fensterschild mit der Aufschrift Leeds . Mir schien,
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