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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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Enkelkind besser kennen lernen. Aber wenn er jemanden kennen lernen wollte, dann die kleine Schülerlotsin an der doppelspurigen Durchgangsstraße, und dazu brauchte er einen Vorwand. Er blieb jedesmal stehen und redete mit ihr, und ich kam Tag für Tag zu spät zur morgendlichen Schulandacht. Mein Großvater schäkerte ständig mit der Lotsin rum und sagte zum Beispiel, ihre Kelle sähe aus wie ein Riesenlolli, aber sie brauche einen ganz andern Lolli und da hätte er genau den richtigen für sie. Damals war ich noch zu klein, um zu wissen, was eine Metapher ist. Aber was ein Lolli ist, wusste ich genau. Und ich fand es jedes Mal schrecklich peinlich. Nach einer Weile war es dann mit den Lolliwitzen vorbei und jetzt schauten sich die beiden, wenn wir zur Kreuzung kamen, jedes Mal tief in die Augen. Und statt mich an der Hand zu nehmen und über die Straße zu führen, hielt die Schülerlotsin meinen Großvater an der Hand und ich durfte mich allein durch den Scheißverkehr kämpfen. Doch als wir eines Tages wieder zur Kreuzung kamen, hob die Lotsin, statt meinem Großvater verliebt in die Augen zu blicken, ihre Kelle und prügelte ihn damit grün und blau. Anscheinend hatte ihr irgend jemand zugetragen, dass mein Großvater seinen Lolli auch noch mit der bisexuellen Serviererin teilte, die in der Gesamtschule St. Bernadette vom ewigen Beistand das Mittagessen auftrug. Nach diesem Vorfall mussten wir jeden Morgen den Berg hochlaufen und die Straße ganz oben bei der Fußgängerampel überqueren. Und dann stürzte mein Großvater vom Dach und der Pfarrer sprach von einer Tragödie.
    Aber meine Oma erwiderte: »Tragödie? So’n Quatsch! Als der auf die Terrasse knallte, war das ein neuer Anfang für mich und eigentlich tut’s mir bloß Leid, dass es nicht schon vor dreißig Jahren Satellitenfernsehen gab!«
    Der Pfarrer blinzelte verwirrt und schlug vor, jetzt vielleicht noch zu besprechen, welche Kirchenlieder beim Begräbnis gesungen werden sollten. Da erwiderte meine Oma prompt: »›Der Tag, der ist so freudenreich‹ und ›Fröhlich soll mein Herze springen‹!«
    Der Pfarrer hüstelte und murmelte, dass tiefes Leid ja oft die seltsamsten Reaktionen zeitige. Dann sagte er, er müsse jetzt weiter, aber meine Oma möge ihm noch sagen, ob mein Großvater beerdigt oder verbrannt werden solle. Worauf ihm meine Oma eröffnete, sie würde ihn am liebsten in ungelöschten Kalk legen lassen. Da blickte der Pfarrer sie bestürzt an, hüstelte erneut und brach eilig auf.
    »Die kapieren es nicht, Raymond«, sagte sie, nachdem sie den Pfarrer zur Tür gebracht hatte. »Die kapieren einfach nicht, was ich all die Jahre durchgemacht hab. Tragisch? Ich könnte diesem Scheißpfaffen sagen, was tragisch ist! Du kennst meine Tragödie, Raymond, nicht wahr?«
    »Ja, Oma«, ewiderte ich. »Deine Tragödie ist, dass du nie zum Mittelmaß gehört hast und doch gezwungen warst, ein mittelmäßiges Leben zu führen.«
    »Genau, Raymond«, sagte sie. »Genau. Ich hab ein Durchschnittsleben geführt. Und alles seinetwegen. Ich hab ihn kennen gelernt, ich hab ihn geheiratet. Ihn und seine Amüsierwut. ›Komm, wir fahren nach Blackpool, Vera. Wir fahren nach Blackpool und amüsieren uns ein bisschen.‹ Er hat sich schrecklich gern amüsiert. Aber ich habe diese blöde Amüsiererei gehasst! Zuckerwatte und Arthur Askey, Hula-Hoop und die schäbigen Butlin’s -Feriencamps und Luftballons und der dämliche Charlie Chaplin und die blöde Singerei im Bus und das Scheißeis und die Scheißcola. Ich wollte mich nicht amüsieren. Ich wollte mich freuen ! Aber das hat er nie kapiert. Und weißt du was, Raymond? Als ich zum ersten Mal entdeckte, dass er herumpoussiert und Ehebruch begeht, als ich rauskriegte, was er mit dieser Buchhalterin aus Cheadle machte, weißt du, was er da zu mir gesagt hat? Weißt du, was er zu mir gesagt hat, als ich ihn nach dem Grund fragte? Er hat gesagt: ›Mit der kann ich mich richtig amüsieren, Vera. Und sie amüsiert sich auch gern. Mit dir ist das ja gar nicht mehr drin.‹«
    Meine Oma starrte einen Moment in die Ferne. Dann drückte sie ihre Zigarette aus und begann den Tisch abzuräumen. »Du weißt, was Thomas Hardy gesagt hat, nicht wahr, Raymond?«, fragte mich meine Oma. »Du weißt, was Thomas Hardy über Tess von d’Urbervilles gesagt hat?«
    Ich wusste es zwar, ließ es mir aber nicht anmerken, weil meine Oma diese Stelle so wahnsinnig gern zitierte:
    »Sie war ein Opfer der alltäglichsten

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