Der Fliegenfaenger
sie und sagte: »Na gut! Dann sag mir einfach, wo in London, dann nehm ich dort Kontakt zu ihnen auf. Das macht gar nichts.«
Aber ich schüttelte den Kopf. Und ich weiß bis heute nicht, ob ich all das nur geträumt hab. Denn als ich das nächste Mal aufblickte, war meine Mam verschwunden. Und ich glaub, es war nicht mal mehr der gleiche Tag. Denn jetzt war es Nachmittag und im Fernsehen lief Emmerdale .
Und statt meiner Mam stand er da, direkt zwischen mir und dem Fernseher, sodass ich meinen Sessel zur Seite rücken musste, um was zu sehen.
Da zog er sich einen Stuhl her und setzte sich neben mich. Ich dachte, vielleicht wolle er mit mir Emmerdale anschauen. Aber er begann sofort zu reden. »Raymond«, sagte er. »Ich fürchte, deine Mam wird heute Abend nicht kommen können. Sie wollte gern, Raymond. Aber ich konnte sie überzeugen, dass, äh … nun ja, dass ich unter … unter den gegebenen Umständen heute Nachmittag besser allein komme.«
Er sah mich von der Seite an. Aber ich schaute mir immer noch Emmerdale an. Dann spürte ich seine Hand auf meinem Arm. Ich starrte ihn an.
Und in gebührend feierlichem Ton sagte er: »Es ist wegen deiner Oma, Raymond.«
Ich starrte ihn an. »Was ist mit meiner Oma?«, fragte ich.
Er seufzte ein bisschen, runzelte die Stirn und sagte: »Deine Oma ist von uns gegangen.«
»Wohin?«, fragte ich.
Er sah auf den Teppich. » Von uns gegangen , Raymond!«, wiederholte er. »Für immer.«
Ich spürte, wie es aus meinem Innern aufstieg; und wie es sich über mein ganzes Gesicht ausbreitete: ein strahlendes Lächeln. Er sah vom Teppich auf und blickte mich streng an.
»Raymond«, mahnte er, »hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? Deine Oma … ist von uns gegangen . Verstehst du, was ich meine, Raymond?«
Ich nickte. Und dann wandte ich mich ab und starrte wieder den Fernseher an. Nur dass ich jetzt nicht mehr Emmerdale anschaute. Stattdessen sah ich meine Oma vor mir, wie sie gehetzt die Einfahrt des Seniorenheims in Stalybridge runterrannte – und alle liefen ihr hinterher, alle verfolgten sie, die Clowns und Komödianten, die kernigen Folksänger und die allzeit vergnügten Pflegerinnen, mit Luftballons in den Händen und roten Plastiknasen im Gesicht, alle rannten meiner Oma nach und wollten sie fangen. Aber sie hatten keine Chance, denn meine Oma war einfach zu schnell und stand wie der Blitz draußen auf der Straße, genau in der Sekunde, als der Bus kam; der große schwarze Bus mit den dunklen Reifen machte einen Bogen und fuhr etwas langsamer, als der äußerst elegant gekleidete Schaffner im schwarzen Gehrock, mit langen weißen Haaren, sich von der Plattform herunterbeugte und die Hand ausstreckte; und meine Oma machte einen Satz, packte die Hand und wurde auf den großen schwarzen Bus raufgezogen. Und da standen die beiden nebeneinander auf der Plattform, während der Bus davonbrauste und die allzeit vergnügten Pflegerinnen mit den knallroten Nasen, die kernigen Folksänger und all die Spaßmacher für immer zurückließ.
Dann kam der große schwarze Bus auf mich zu. Und als er an mir vorbeifuhr, verlangsamte er für einen Moment seine Fahrt, nur für einen Moment. Und da winkten die beiden von der Plattform runter und meine Oma lächelte mir zu; und neben ihr stand Thomas Hardy, der Meister des Elends.
»Hast du gehört, Raymond«, sagte er. »Ich muss dir leider mitteilen, dass deine Oma gestorben ist.«
Ich nickte. »Ich weiß«, sagte ich, »und sie wird sehr froh drüber sein.«
Er sah mich an. Dann stand er seufzend auf, ohne mich aus den Augen zu lassen. Aber da er mir den Blick auf den Fernseher versperrte, musste ich mit dem Sessel wieder ein Stück zur Seite rücken. Er seufzte nochmal und schüttelte den Kopf. Dann meinte er: »Und deine Mam hatte so gehofft, dass du an der Beerdigung teilnehmen kannst!«
Ich fand es völlig daneben; irgendwo tief in meinem Innern, ganz hinten in meinem Kopf fand ich es völlig daneben, dass alle schwarze Kleider trugen und zur Beerdigung meiner Oma gingen. Es war doch gut, dass sie tot war! Und ich sprach es auch aus, auf dem Rücksitz der großen schwarzen Limousine.
»Es ist doch gut, dass Oma tot ist, oder?«, sagte ich.
Sie warfen sich viel sagende Blicke zu; bis auf Berney und Dolly, die mich unverwandt anstarrten, seitdem ich in den Wagen gestiegen war.
Mr. Wilson tätschelte meinen Arm und meinte: »Schon gut, Raymond.« Dann lächelte er Onkel Jason und Tante Fay an, die uns
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