Der Fliegenfaenger
gegenübersaßen.
»Kümmern Sie sich nicht um Raymond«, erklärte er. »Das ist heute natürlich alles sehr viel für ihn. Sie müssen bedenken, er ist es gar nicht mehr gewohnt, sich frei in einer ganz normalen Umgebung zu bewegen!«
Onkel Jason glotzte mich finster an und Tante Fay warf mir einen nervösen Blick zu. Dann meinte sie: »Das ist sehr nett von Ihnen, Mr. Wilson … Ted. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Es gibt nicht viele, die das auf sich nehmen würden. Es ist ja doch eine große Verantwortung, wenn jemand in so einem Zustand ist.«
Sie nickte in meine Richtung, ohne mich anzusehen. »Nun«, erwiderte Mr. Wilson, »so groß ist die Verantwortung auch wieder nicht, Fay. Raymond und ich, wir verstehen uns ja und kommen gut miteinander aus; stimmt’s, Raymond?«
Ich nickte.
Und dann lächelte er Tante Fay an und fügte hinzu: »Normalerweise hätte die Klinik darauf bestanden, dass ein Wärter mitkommt. Aber Raymonds Arzt hielt das nicht für nötig, allerdings unter der strikten Bedingung, dass Raymond die ganze Zeit unter meiner Aufsicht bleibt.«
»Natürlich«, erwiderte Tante Fay, »die vertrauen Ihnen, Mr. Wilson, nicht wahr? Die Ärzte wissen ja, ein Mann wie Sie, der kennt sich aus mit solchen Dingen, mit der Seele und so, nicht wahr?«
Mr. Wilson lächelte erneut.
Ich beugte mich vor und sah zu meiner Mam rüber, die links von ihm saß. Sie wirkte so traurig und kummervoll und trotzdem schön. Aber sie sah mich nicht an. Sie starrte aus dem Fenster in die Ferne. Und ich wusste, dass sie an meine Oma dachte, die ihre Mam gewesen war; und jetzt hatte meine Mam keine Mam mehr. Und ich hatte keine Oma mehr.
Ich lehnte mich wieder in meinen Sitz zurück.
»Es ist doch gut, dass sie tot ist, nicht wahr?«, sagte ich.
Aber mein Onkel Jason knurrte gereizt: »Um Himmels willen, kann das nicht jemand mal abstellen?«
»Raymond!«, sagte meine Mam ruhig.
Und da seufzte ich und sagte nichts mehr und beobachtete Blödmann Berney, der gerade seinem Dad etwas ins Ohr flüsterte.
Aber er flüsterte so laut, dass es alle hörten: »Raymond ist verrückt, Dad, stimmt’s? Er ist verrückt.«
Tante Fay sagte, er solle den Mund halten und einfach aus dem Fenster schauen.
Doch da musste sich natürlich gleich wieder Wilson einmischen. »Wir versuchen, auf Wörter wie ›verrückt‹ zu verzichten, Berney«, sagte er. »Deinem Cousin geht es schlecht, Berney, das stimmt. Aber wenn es einem Menschen psychisch schlecht geht, Berney, dann verdient er ebenso viel Mitgefühl, ebenso viel Verständnis wie jemand, dem es physisch schlecht geht!«
Blödmann Berney starrte Wilson mit offenem Mund an und sank neben seinem Dad in sich zusammen, während er angestrengt überlegte, ob Wilson ihn gerade verarscht hatte oder einfach nur unglaublich eingebildet war. Tante Fay lachte nervös und kam ihm zu Hilfe. »Oh, genau das hat er gemeint, Mr. Wilson; nicht wahr, Berney? Du hast einfach nur gemeint, dass es Raymond schlecht geht, stimmt’s?«
Aber inzwischen wusste Blödmann Berney gar nicht mehr, was er eigentlich gemeint hatte, und gaffte Mr. Wilson bloß weiter an; es folgte eine peinliche Stille.
Da sagte ich: »Es ist doch gut so, denn wenn meine Oma nicht tot wär, würde sie nicht zu dieser Beerdigung kommen, oder?«
»Um Himmels willen«, brauste Onkel Jason auf, »ich weiß wirklich nicht, ob ich das noch lange ertrage!«
Wieder mahnte meine Mam: »Raymond!«, und ich verhielt mich ganz still.
Die Doofe Dolly starrte zu mir rüber. Ich lächelte sie einfach an. Aber da rückte sie näher an ihre Mam ran und wimmerte: »Mummy, der guckt mich an, der guckt mich die ganze Zeit an!«
Aber ich lächelte sie weiter an. Irgendwie konnte ich mich dumpf erinnern, dass sie mich ankotzte und ich sie eigentlich gar nicht leiden konnte. Aber anscheinend störte mich das im Moment nicht mehr. Anscheinend störte mich überhaupt nichts mehr, nicht mal, dass meine Oma beerdigt wurde. Ich wusste, eigentlich hätte meine Oma gar kein christliches Begräbnis bekommen dürfen. Eigentlich hätte ich sie alle anschreien sollen: Dieser Gottesdienst ist die reinste Blasphemie, wo meine Oma doch immer die Kirche gehasst hat, wo sie doch immer gesagt hat, das sei ein Quell falscher Hoffnungen und eine Erfindung für die Kleinmütigen. Meine Oma hatte nie auf einem Friedhof beerdigt werden wollen, sondern sich immer gewünscht, später in einer biologisch abbaubaren Kiste unter einer majestätisch-melancholischen
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