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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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als sei er voller Anteilnahme und Mitgefühl. »Das muss ja schlimm sein«, sagte er seufzend, »wenn man nicht mehr zwischen irgendwelchen Sinnestäuschungen und der Wirklichkeit unterscheiden kann.«
    Und er schüttelte wieder den Kopf.
    Mr. Wilson sagte, sobald ich meine Medikamente genommen hätte, ginge es mir wieder gut. Und er erklärte Onkel Jason, dass die Medikamente hemmend wirkten und alles Unangenehme in meinem Gehirn unterdrückten, sodass ich stets ausgeglichen und ruhig sei. Und Onkel Jason nickte, als würde ihn das wirklich interessieren. Aber ich merkte genau, dass Mr. Wilsons Geschwätz sogar meinen Drecksonkel Jason furchtbar langweilte.
    Und da kam mir seit langer Zeit zum ersten Mal wieder in den Sinn, dass Wilson ja ein Mutant war. Und ich überlegte, ob er, mit etwas Glück, meinen Onkel Jason vielleicht einfach zu Tode langweilen könnte.
    Doch bevor sich die Chance ergab, waren wir schon an der Kirche angekommen und stiegen aus. Und als ich auf dem Gehweg stand, trat meine Mam mit dem Gesicht einer leidgeprüften Frau auf mich zu, hakte sich schnell bei mir unter und sagte: »Komm, mein Junge. Wir gehen zusammen rein.«
    Mir war das recht, denn ich wollte bei meiner Mam sein.
    Aber da sagte Mr. Wilson: »Shelagh! Shelagh! Er muss doch seine Medikamente einnehmen!«
    Jetzt sah meine Mam noch trauriger aus. »Es dauert doch nur eine Stunde oder so«, sagte sie stirnrunzelnd. »Hat das nicht noch eine Stunde Zeit?«
    Da blickte Wilson meine Mam an, als benehme sie sich sehr, sehr dumm und kindisch.
    Meine Mam nickte. Ihr Arm glitt aus meinem. Und sie ging allein in die Kirche, während mich Mr. Wilson in die Sakristei führte und Wasser in einen Becher laufen ließ, damit ich meine Tabletten einnehmen konnte.
    Mr. Wilson sagte, es sei außerordentlich wichtig, dass ich die Medikamente jeden Tag exakt zur selben Zeit einnehme; es gehe nämlich um das Gleichgewicht, sagte er; das Gehirn sei chemisch aus dem Gleichgewicht geraten, sagte er, und deshalb laufe alles aus dem Ruder.
    »Und an einem Tag wie diesem, der sowieso schon sehr anstrengend ist, Raymond«, sagte er, »wollen wir dich ja nicht mehr belasten als unbedingt nötig.«
    Ich schüttelte den Kopf. Er reichte mir den Wasserbecher und suchte in seinen Taschen nach meinen Tabletten.
    Ich nahm meine Tabletten gern ein. Wenn ich meine Tabletten einnahm, spürte ich nichts mehr. Und ich wollte nichts spüren, ich wollte mir nichts vorstellen; ich wollte nicht, dass wieder so komische Sachen mit mir passierten.
    Und deshalb weiß ich eigentlich gar nicht, warum ich es tat!
    Aber vielleicht hing es mit meiner Mam zusammen und damit, dass sie vorhin ganz allein in die Kirche gegangen war, ohne mich.
    Er legte mir die Tablettten vorsichtig in die Hand. Dann stand er da, beobachtete mich und sagte: »Na los, Raymond. Nimm sie, dann gehen wir rein.«
    Und gerade, als ich die Hand hob, um meine Tabletten zu schlucken, kam dieser neue junge Pfarrer in die Sakristei und sagte: »Guten Tag! Alles in Ordnung hier?«
    Mr. Wilson drehte sich schnell um und erwiderte: »Guten Tag, Herr Pfarrer. Ja, alles bestens. Raymond hat nur ein bisschen Wasser für seine Tabletten gebraucht. Wie geht’s Ihnen denn so?« Und er trat auf den Pfarrer zu und schüttelte ihm die Hand. Dann fragte er ihn, wie ihm seine neue Pfarrstelle gefalle und ob er sich schon gut in Failsworth eingelebt habe.
    Und da merkte ich, dass sie mir beide den Rücken zuwandten. Und ich sah, dass noch immer der Wasserhahn lief. Und während sich Mr. Wilson weiter mit dem Pfarrer unterhielt, schnipste ich die Tabletten einfach ins Waschbecken und sah zu, wie sie sich auflösten und im Abfluss verschwanden. Ich starrte in den Ausguss und überlegte, warum ich das eigentlich getan hatte.
    In dem Moment drehte Mr. Wilson sich wieder um und ich trank rasch einen Schluck Wasser aus dem Becher, als wolle ich die Tabletten runterspülen.
    »Na, Raymond?«, fragte er. »Alles unten?«
    Ich nickte. Und er nahm mir den Becher aus der Hand und spülte ihn unterm Wasserhahn aus.
    »Komm jetzt, Raymond«, sagte er dann. »Hier entlang.« Und er nahm mich am Arm und schob mich aus der Sakristei in die Kirche.
    Da wurde ich plötzlich unruhig. Denn ohne die Medikamente kam ja die Chemie in meinem Hirn aus dem Gleichgewicht. Ich geriet richtig in Panik und konnte gar nicht begreifen, warum ich so dumm gewesen war. Ich wusste nicht, was jetzt passieren würde.
    Aber dann waren wir in der Kirche und er

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