Der Fliegenfaenger
Doppelmitgliedschaft umwandeln, und wenn meine Mam dann erst mal draußen an der frischen Luft durch die wilden, unwegsamen Moore wandere, werde sie stabiles Schuhwerk schätzen lernen und es schon bald nicht mehr entbehren wollen.
Er laberte noch eine Ewigkeit weiter. Doch meine Mam hörte ihm gar nicht zu. Denn meine Mam sah die ganze Zeit mich an. Und dann, als er sich gerade mutantenhaft weitschweifig darüber ausließ, welch unentbehrliches Kleidungsstück doch ein wasserdichter Anorak für jeden sei, der sich auf einen Streifzug durchs Hochmoor wage, selbst noch im Juli, da griff meine Mam nach meiner Hand, drückte sie ganz fest und sagte: »Es wird alles wieder gut, Kind. Bald geht es dir wieder besser, das weiß ich, denn …«
Aber er unterbrach sie gereizt und sagte, natürlich werde es mir bald wieder besser gehen, das sehe doch jeder, dass ich wunderbare Fortschritte mache.
Ich wollte ihm nicht zuhören! Ich wollte meiner Mam zuhören, ich wollte hören, was meine Mam mir zu sagen hatte. Aber er ließ meine Mam gar nicht zu Wort kommen. Immer, wenn sie irgendwas sagen wollte, unterbrach er sie gleich und führte den Satz für sie zu Ende, als wisse er besser als meine Mam, was sie eigentlich meinte. Und am Ende gab meine Mam einfach auf, überließ ihm das Reden und saß nur da, als sei sie eine Art Ersatzteil. Und irgendwo weit weg in meinem Kopf, hinter dem wattigen Nebel der Medikamente, begriff ich, dass meine Mam eine Gefangene war. Aber ich konnte sie nicht retten, das war mir klar. Ich hatte nicht die Kraft, irgendwen zu retten. Ich konnte nur dasitzen und hörte nicht mal, was Wilson laberte und laberte, bis es Zeit war, zu gehen; und dann gab meine Mam mir einen Kuss und umarmte mich, umarmte mich ganz, ganz fest, bis Wilson sagte: »So, Shelagh, das reicht jetzt. Der Junge kriegt ja keine Luft mehr!«
Aber meine Mam hielt mich noch ein paar Sekunden länger im Arm. Und dabei flüsterte sie mir ins Ohr: »Es tut mir Leid, Kind, es tut mir so schrecklich Leid!«
Ich war froh; ich war froh, dass ich auf die richtigen Medikamente eingestellt und stabilisiert worden war und mich innerlich weit weg befand. Denn so machte es mich nicht traurig, mit ansehen zu müssen, wie meine Mam jetzt mit den Tränen kämpfte, wie Wilson sie durch den Krankensaal führte und wie sie sich immer wieder winkend umdrehte. Dann waren beide weg. Und ich war froh, weil ich jetzt wieder ins Fernsehzimmer konnte. Going for Gold war zu Ende. Aber The Sullivans lief noch. Also schaute ich mir die an. Ich saß sehr gern im Aufenthaltsraum und guckte die Gameshows, Quizshows, Talkshows, die Koch- und Kindersendungen und sämtliche Serien; all diese Fernsehsendungen, in denen nie etwas passiert. Und in denen das Nichts, das ständig passiert, mit Gelächter und lautem Applaus quittiert wird.
Und plötzlich stand sie da, meine Mam, ganz allein. Und ich wusste nicht, ob es noch der gleiche Tag war oder nicht. Ich weiß nicht mal, ob sie wirklich da war oder ob ich mir das damals nur vor dem Fernseher zusammengeträumt habe.
»Sag’s mir!«, bat sie mich. »Sag mir, wo sie in Failsworth wohnen, dann gehe ich hin! Und wenn er nicht dabei ist, bring ich sie mit her!«
Ich sah sie an. Ich kapierte nicht, was sie meinte. Aber sie beugte sich zu mir runter, nahm meine Hände, starrte mich eindringlich an und sagte: »Ich bring sie dir, deine Freunde! Sag mir einfach, wo sie wohnen!«
Da wurde mir klar, dass sie Twinky und Norman meinte. Ich schüttelte den Kopf und da verzog sich das Gesicht meiner Mam, als wolle sie gleich wieder weinen. »Komm schon, Raymond!«, drängte sie. »Sag mir einfach, wo sie wohnen! Ich dachte, du willst sie gern sehen!«
Da runzelte ich die Stirn. Nein, ich wollte sie nicht sehen, nicht mehr. Ich wollte meine Freunde jetzt nicht sehen; jetzt, wo ich wieder dick geworden war. Ich war zwar nicht richtig dick, nicht äußerlich. Aber innerlich, da war ich dick; da war ich dick und deprimiert und lahm und dumm und mein Hirn funktionierte nicht mehr, ich wollte über nichts mehr nachdenken. Deshalb sagte ich zu meiner Mam: »Sie sind weg. Meine Freunde sind weg.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie besorgt und kauerte sich vor mich hin. »Wie meinst du das, Raymond?«
Ich zuckte nur seufzend die Achseln und sagte: »Die wohnen nicht mal mehr in Failsworth, Twinky und Norman. Sie sind nach London gegangen.«
Ich wollte weiter fernsehen. Aber meine Mam hielt meine Hände umklammert und schüttelte
Weitere Kostenlose Bücher