Der Fliegenfaenger
begreifen können, dass ich keineswegs »überhaupt nichts« tat.
Ich war ein Morrissey-Fan!
Das war meine Beschäftigung, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche! Ich hörte zu und las und dachte nach und träumte. Und ich schrieb. Den ganzen Tag schrieb ich in mein Songbook. Meine Worte, meine Songs, meine Ideen, meine Gedanken über dich, Morrissey, und die Smiths. Und noch andere Dinge, über meine Oma. Und sogar ein paar Sachen über mich selbst.
Ich war kein »Faulenzer«. Ich war die ganze Zeit beschäftigt; ich war damit beschäftigt, ich selbst zu sein. Denn das hast du mir erst möglich gemacht, Morrissey, du hast es mir möglich gemacht, ich selbst zu werden. Und es war wundervoll: zu wissen, dass ich okay war; zu wissen, dass es absolut, vollkommen, tausendprozentig okay war, nicht normal zu sein. Dass es sogar besser war! Ja, dass es überhaupt das Allerbeste und Tollste war, nicht normal zu sein.
Genau das hatte ich gesehen, Morrissey, als ich dich zum ersten Mal im Fernsehen sah; deine großartige Nicht-Normalität.
Im Fernseher in unserem Wohnzimmer. Damals wusste ich nicht mal, wer du warst. Ich hatte bis dahin eigentlich kaum Popmusik gehört. Ich wusste nichts von The Smiths. Aber ich saß gebannt auf unserem Sofa, in einem aufgewühlten Zustand ekstatischer Heiterkeit, als ich dich »Half a Person« singen hörte und »Cemetery Gates«, und »The Boy With the Thorn In His Side«. Und in einer Woge des Wiedererkennens, die über mir zusammenschlug, wusste ich plötzlich, dass jemand mich kennt! Dass mich jemand versteht.
Sonst schien mich nämlich niemand zu verstehen.
Meine Mam sagte dauernd, sie habe es langsam satt, dass ich immer nur zu Hause rumhocken und die kostbarste Zeit meines Lebens verschwenden würde.
»Seit du aus der Klinik entlassen bist«, sagte sie, »hast du eigentlich noch gar nichts getan, Raymond. Und ich hab immer gedacht, wenn wir erst wieder in Failsworth wohnen, gehst du aus dir raus und reißt dich zusammen!»
Das sagte meine Mam immer wieder. Das hatte sie immer gedacht.
Kaum waren wir nach Failsworth zurückgezogen – nachdem man den Vater des kleinen Mädchens festgenommen hatte und mir keiner mehr die Schuld geben konnte -, dachte meine Mam, jetzt könnten wir einfach noch mal ganz von vorn anfangen. Wahrscheinlich wollte sie, dass ich der Junge wurde, zu dem ich bestimmt war. Aber das ging nicht. Denn inzwischen war viel Zeit vergangen. Und ich war ein anderer Junge geworden.
Ich versuchte ihr zu erklären, dass sie sich keine Sorgen um mich machen müsse. Weil ich vollkommen glücklich sei.
Und das war ich auch, Morrissey; von dem Tag an, als ich dich entdeckte, bin ich immer glücklich gewesen. Selbst als ich herausfand, dass ich furchtbar spät dran war, weil sich The Smiths bereits getrennt hatten, war ich immer noch glücklich, denn ich hatte dich gefunden. Ich meine damit nicht, dass ich auf oberflächliche, leichtsinnige Weise glücklich war; nicht übertrieben, überschwänglich, überspannt, nicht albern glücklich, nicht närrisch-nichtsnutzig glücklich, nein. Es war ein echtes Glück, Morrissey; ein ruhiges, stilles Glück tief in mir drin. Als wär ich wieder ein Kind und könnte mich mit meinen schönen katalogisierten Comics beschäftigen.
Ich war kein »stinkfauler Müßiggänger«!
Ich war Morrissey-Fan. Und ich war ich selbst. Deshalb hab ich sie auch rausgeholt, Morrissey, aus dem Verschlag unter der Treppe, wo sie monatelang vergessen und missachtet vor sich hingegammelt hatte. Ich war schon drauf und dran gewesen, sie wegzuwerfen oder zu verschenken, denn jedes Mal wenn ich sie sah, erinnerte sie mich bloß an Swintonfield. Und deshalb war sie im Verschlag unter der Treppe geblieben: die Gitarre – bei meinen Star Wars -Sachen, meiner eingestaubten Comicsammlung und all den andern Dingen, aus denen ich rausgewachsen war; bei all dem Kram, der mal zu einer Person gehört hatte, an die ich mich kaum noch erinnern konnte.
Aber jetzt, als ich dich gefunden hatte, Morrissey, jetzt, als ich von dir lernte, ja sogar selber anfing, Songs zu schreiben, jetzt, als ich unter all dem Plunder und Trödel und Krimskrams die Gitarre hervorholte, jetzt war es, als würde ich einen kostbaren, lange vermissten Schatz heben.
Und dabei hatte ich sie erst gar nicht haben wollen!
Ich hatte es John, dem Gärtner gesagt; ich war zu ihm gegangen und hatte ihm gesagt, dass ich ab jetzt nicht mehr für ihn Gitarre spielen könne; dass wir
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