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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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ab jetzt nicht mehr zusammen den köstlichen Zuckertee mit wenig Milch trinken oder an Sommernachmittagen dem lauen Wind in den Zweigen der mächtigen Kastanie lauschen könnten. Denn ich wurde entlassen. Und wenn ich gewusst hätte, Morrissey, wer er wirklich war, dann hätt ich seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet. So aber dachte ich im ersten Moment, er sei krank. Ich dachte an einen Herzanfall. Denn plötzlich verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz, und er stieß einen wimmernden Laut aus, den ich noch nie bei ihm gehört hatte und deshalb nicht übersetzen konnte. Und obwohl ich den wahren Grund nicht kannte, spürte ich doch, welch übermenschliche Anstrengung es ihn kostete, mir lächelnd mit der Hand durchs Haar zu fahren und dabei seine halb erstickten knurrenden Laute auszustoßen, die ich schon kannte; ich wusste, dass er zu mir sagte: »Gut! Gut, freut mich für dich, dass du hier rauskommst. Und dass du heim darfst, wo du hingehörst!«
    Und als ich am nächsten Morgen, dem Tag meiner Entlassung, aufwachte, stand die Gitarre neben meinem Bett. Ich wollte sie doch gar nicht!
    Aber ich wusste, dass ich sie annehmen musste.
    Und als meine Mam mich abholen kam und fragte, woher die Gitarre denn stamme, sagte ich, vom Gärtner. Und wir müssten noch unbedingt zu ihm; ich wolle mich bedanken; und mich von ihm verabschieden.
    Aber als wir hinkamen, war natürlich niemand da. Die Hütte stand leer wie jedesmal, wenn ich mit meiner Mam vorbeigekommen war.

    Wie es wohl gewesen wär, wenn er mich richtig spielen gehört hätte, Morrissey? Ich meine natürlich nicht brillant, denn ich werde nie so brillant Gitarre spielen wie der geniale Johnny Marr. Aber ich hab genug gelernt, Morrissey. Nachdem ich die Gitarre aus dem Treppenverschlag gerettet, aufpoliert und neu bespannt hatte, übte ich jeden Tag; anfangs taten mir vom Greifen und vom Niederdrücken der Saiten schrecklich die Finger weh; aber irgendwann wurden die Finger dann geschmeidiger, die Kuppen glatter und härter, und es tat nicht mehr weh.
    Und dann erarbeitete ich mir Tag für Tag neue Griffe, indem ich die Songs immer wieder anhörte; ich brachte mir die Griffe zu »Hatfull of Hollow« und »Handsome Devil« bei, zu »Back to the Old House«, »Ask«, »Panic« und »Cemetery Gates« und zu »Please Please Let Me Get What I Want This Time«.
    Und es war wirklich wie im Titel dieses letzten Songs, Morrissey: als hätte ich alles bekommen, was ich wollte; denn ich hatte einen Weg gefunden, ich selbst zu sein.
    Und deshalb ließen sie mich kalt, die Darren Duckworths und die Kev Cowleys. Deshalb konnte ich weitermachen, ohne mich um irgendwelche Geoffrey Weatherbys zu scheren. Und um die Freundinnen, die ich nicht hatte. Es war egal. Ich lebte mein eigenes Leben.
    Bis!
    Letzte Nacht, Morrissey, als er mich in dem silberfarbenen Mercedes mitnahm, konnte ich es kaum glauben. Es hätte die Mitfahrgelegenheit des Jahrhunderts sein können! Ich hatte noch nie zuvor einen echten Amerikaner kennen gelernt! Und vor allem noch nie eine Person mittleren Alters, die fast alle Songs von beiden Seiten der Smiths’ Single -Kassette kannte. Er sagte, er habe deine Musik durch seinen Sohn in New York kennen gelernt. Und nur deshalb habe er für mich angehalten, denn normalerweise würde er es sich zweimal überlegen, so spät abends einen Anhalter mitzunehmen. Aber er habe mein T-Shirt gesehen und Edith Sitwell erkannt. Ich hatte nicht mal den Daumen rausgehalten, sondern einfach nur bei der Tankstelle gesessen.
    Und dann hörte ich jemand sagen: »Hey, Junge! Suchst du eine Mitfahrgelegenheit?«
    Ich blickte auf und sah ihn neben seinem Wagen stehen.
    »Wo willst du denn hin?«, fragte er.
    Und als ich sagte: »Grimsby«, meinte er, »da hast du Glück, steig ein!«
    Er wohne nur ein paar Meilen südlich davon, sagte er, und könne mich ohne weiteres in Grimsby rauslassen.
    Ich weiß, Morrissey! Ich weiß, ich hätte über diese tolle Mitfahrgelegenheit vor Freude ganz aus dem Häuschen sein müssen. Vor allem, als ich in diesem großen luxuriösen silberfarbenen Mercedes mit Ledersitzen und Klimaanlage über die Autobahn glitt und aus den Lautsprechern die herrliche Musik der Smiths’ Singles ertönte. Ich hätte mich phantastisch fühlen müssen, es war aber nicht so. Der Amerikaner war wirklich nett. Er tat nicht nur so, als würde er deine Musik mögen, wie gewisse Pfarrer und Lehrer, die sich gebärden, als würden sie Musik gut finden, für die sie viel

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