Der Fliegenfaenger
starrte auf Schulhöfe und Kinderspielplätze, Bürohäuser, Lagerhallen, Bauplätze; auf die Schilder, die zum Hafen, zu den Museen und Fähren wiesen; und auf einem Schild neben der Ampel stand FISCH DOCK NR. 9.
Und daneben, mit einer Schnur befestigt, hing ein Stück gelbe Pappe mit einem schwarzen Pfeil, unter dem zu lesen stand: KINO-KOMPLEX 200 YARDS. ALLE BAUFAHRZEUGE UNBEDINGT BEI DER BAULEITUNG MELDEN!
Auf dieses Pappschild starrte ich, als der Wagen auf einmal langsamer fuhr und der Amerikaner fragte: »Wo wohnst du noch mal – wie hieß gleich die Straße?«
Ich zog den Zettel aus der Tasche und sagte: »Slinger Street.«
»Hast du eine Ahnung, wo das ist?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, irgendwo in der Nähe der Docks«, erwiderte ich.
Er nickte, sah aus dem Fenster und hielt an. »Tja, ich glaube, das sind schon die Docks. Aber ich habe keinen blassen Schimmer, wo die Slinger Street sein könnte.«
»Macht nichts«, sagte ich. »Sie können mich hier rauslassen, dann find ich’s schon.«
Er runzelte skeptisch die Stirn. »Bestimmt?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich, »ich frag einfach jemand.«
Ich stieg aus. Da stieg er auch aus und meinte: »Hör mal, es ist schon ziemlich spät. Woher weißt du, ob dich überhaupt noch jemand reinlässt?«
»Geht schon in Ordnung«, sagte ich, »die wissen, dass ich komme. Hat mein Onkel arrangiert.«
Er nickte. »Okay«, meinte er dann. »Pass gut auf dich auf!«
Und kurz bevor er wieder in sein Auto stieg, fragte er noch: »Wie heißt du eigentlich, Junge?«
Ich sagte es ihm. »Also«, meinte er, »war schön, dich kennen zu lernen, Ray. Übrigens, ich heiße Ralph, Ralph Gallagher.«
Er schüttelte mir die Hand. Und ich bedankte mich für die tolle Mitfahrgelegenheit. »Ich hätte gar nicht gedacht«, sagte ich, »dass ein Mensch in Ihrem Alter Morrissey-Fan sein könnte.«
Er sah mich an. Dann fragte er: »Willst du etwa sagen, dass ich alt bin, Raymond?«
Ich schüttelte den Kopf und entschuldigte mich. Aber er meinte lachend: »Hey! Schon okay, war doch nur ein Scherz!«
Ich nickte.
Dann sagte er: »Also, viel Glück, Raymond.« Er schüttelte mir noch mal die Hand und stieg ein.
Und als ich schon wegging, hörte ich ihn rufen: »Hey, Ray!«
Ich blieb stehen. Er lehnte sich aus dem Beifahrerfenster.
»Was ich dich noch fragen wollte: Was steht eigentlich in diesem Buch?«
Ich wusste erst nicht, was er meinte, und starrte ihn fragend an.
Er zeigte auf mich und sagte: »Seit du eingestiegen bist, hast du es die ganze Zeit umklammert, als hinge dein Leben davon ab.«
Jetzt merkte ich, dass er mein Songbook meinte, und zuckte die Achseln. »Das ist nur mein Buch«, antwortete ich. »Da schreib ich Sachen rein.«
Jetzt war es an ihm, mich fragend anzustarren. »Ach ja?«, sagte er. »Was zum Beispiel? Was schreibst du da rein?«
»Songtexte«, erwiderte ich. »Meine Songtexte. Und Einfälle und so weiter. Und Briefe, an Morrissey.«
Er starrte mich an und nickte. »Songtexte«, wiederholte er. »Macht dir das Spaß? Songtexte zu schreiben?«
Ich nickte. Er schien einen Moment drüber nachzudenken, mir war nur nicht klar, warum.
Aber dann schüttelte er lächelnd den Kopf, kurbelte das Fenster wieder hoch und fuhr davon.
Ich sah dem Wagen nach. Und plötzlich fragte ich mich, ob ich mir das alles nur eingebildet hatte: den netten Amerikaner mit dem silbernen Wagen, dem grau melierten Haar und dem aufrichtigen Gefühl für die Songs, die ich liebte. Vielleicht hatte ich ja alles nur geträumt. Aber es war einer jener Träume, aus denen man nie erwachen möchte, weil man genau weiß, dass nach dem Aufwachen alles wieder normal ist und man das tun muss, was nun mal getan werden muss. Deshalb wollte ich nicht, dass er wegfuhr und mich stehen ließ neben dem Schild mit der Aufschrift: FISCH DOCK NR. 9 .
Als ich den silberfarbenen Wagen wegfahren sah, fiel mir etwas ein, das mir meine Mam einmal vor Jahren erzählt hatte: dass sie sich im Flur eines Krankenhauses ganz sicher und geborgen gefühlt hatte, weil Dr. Janice bei ihr war.
Und als Dr. Janice wegging, hätte meine Mam sie am liebsten festgehalten, um sich weiter so sicher und geborgen zu fühlen. Aber meine Mam wusste, dass es albern war, einen Menschen festhalten zu wollen, noch dazu eine Ärztin, die man kaum kannte, nur um weiter bei diesem Menschen sein zu dürfen.
So hab ich mich auch gefühlt, Morrissey, als der Amerikaner wegfuhr. Ich wollte
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