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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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noch einmal mit dem Finger auf mich und sagte: »Du bist verrückt, du bist schlicht und einfach verrückt! Aber lass dir eines gesagt sein, Bursche, meine Kinder verdirbst du mir nicht mit deiner ekelhaften kranken Phantasie! Vorher dreh ich dir den Hals um, ich warne dich!«
    Und dann verschwanden sie im Haus. Ich blieb auf dem Boden sitzen, bis ich hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Dann sammelte ich meine Star Wars -Figuren ein. Nach einer Weile erschien meine Mam an der Terrassentür und ich hatte sie noch nie so wütend gesehen. Sie starrte mich an, als ob sie mich am liebsten umbringen würde, und fragte: »Machst du das eigentlich alles, um mir wehzutun? Ja?«
    Ich schüttelte den Kopf, während ich dastand und meine Star Wars -Figuren umklammert hielt.
    »Warum tust du es dann?«, rief sie. »Prinzessin Leia eine Prostituierte! Bist du von allen guten Geistern verlassen oder was? Was hab ich dir getan, Raymond? Los, sag’s mir, womit hab ich all das verdient?«
    Ich schwieg, weil ich ja wusste, dass meine Mam nichts von alldem verdient hatte. Aber meine Mam, die mich nur für verstockt hielt, lief mit ein paar raschen Schritten auf mich zu, zeigte mir mit dem Finger ins Gesicht und sagte: »Du wirst mir jetzt antworten! Du wirst mir jetzt gefälligst antworten, und wenn wir die ganze Nacht hier stehen. Antworte mir, Raymond!« Sie packte mich am Arm. »Mir reicht’s jetzt, verdammt noch mal, ich will jetzt endlich wissen, was mit dir los ist! Warum in Gottes Namen sagst du so was? Warum? Warum?«
    Und bei diesen Worten schüttelte mich meine Mam so heftig, dass alle meine Star Wars -Figuren auf den Boden purzelten. Und meine Mam starrte mich schockiert an, als ich sie wegstieß und schrie: »Ich weiß nicht, warum!«
    Und dann stürzten mir die Tränen aus den Augen, all die Tränen, die ich nicht geweint hatte, seitdem ich das zerrissene Geheimdokument am Fuß der Eisenbahnbrücke entdeckte, und ich schrie weiter: »Ich hab keine Freunde! Alle hassen mich und sogar du hasst mich, weil ich so fett und widerlich bin, und ich kann doch nichts dafür! Ich wollte es nicht tun! Ich wollte das gar nicht zu Dolly sagen, es ist mir einfach so rausgerutscht, ich konnte nichts dafür! Ich weiß, dass ich schrecklich bin, aber ich kann nicht anders, weil … irgendwas in mir zwingt mich einfach dazu!«
    Meine Mam stand da und sah mich an. Sie hatte langsam die Hand vor den Mund gehoben. Jetzt schüttelte sie den Kopf und sagte erschrocken: »Mein Gott! Mein Gott, was sollen wir bloß tun?«
    Und dann drehte sie sich um und ging ins Haus zurück.
    Und ich setzte mich zwischen meine Star Wars -Figuren auf den Boden und wünschte mir von ganzem Herzen, dass ich einfach wieder so wie früher sein könnte; ein netter, normaler, durchschnittlicher, unauffälliger Junge. Ich wollte nicht mehr der Junge sein, der ich jetzt war; der Junge, der sich seiner kleinen Kusine gegenüber böse und gehässig benahm, der Junge, der seine Mam so weit gebracht hatte, dass sie ihn nur noch ausschimpfte und anschrie. So wollte ich nicht sein. Ich wollte wieder ein netter Junge werden.
    Und vielleicht wünschte sich meine Mam genau das Gleiche.
    Vielleicht war das der Grund, warum sie an jenem Abend beschloss, dass etwas geschehen musste.
    Sie saß im Wohnzimmer und dachte nach. Sie dachte an die Angst, die sie schon ewig quälte, von der sie aber noch keinem Menschen erzählt hatte – die Angst, mein Vater sei nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Meine Mam war immer loyal gewesen, hatte die Erinnerung an meinen Dad immer in Ehren gehalten. Und obwohl er ein richtiger Taugenichts gewesen war und ihr nie ihren Fertigrasen verlegt hatte, hatte meine Mam nie auf Onkel Jason gehört, der nichts lieber tat als zu behaupten, mein Dad sei verrückt, ja sogar ein bisschen wahnsinnig gewesen, wenn man mal überlegte, dass er sich laufend in Gretsch-Gitarren, Langhalsbanjos und Keyboards verliebte, auf denen er dann doch nicht spielen konnte. Meine Mam bestritt heftig, dass mein Dad verrückt gewesen sei, und verteidigte ihn jedes Mal.
    »Ziellos«, sagte meine Mam immer. »Johnny war nicht verrückt. Er war ziellos und schwach, das stimmt. Aber das ist auch schon alles, was man Johnny vorwerfen kann.«
    Das hatte meine Mam immer gesagt, wenn jemand andeutete, mein Dad sei vielleicht nicht ganz normal gewesen.
    Aber insgeheim, tief im Herzen, war sie die Angst nie losgeworden; diese Stimme, die ihr leise zuflüsterte, dass mein Dad

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