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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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nun mal passiert. Und zumindest schienen sie vor lauter Lachen vergessen zu haben, dass sie mich eigentlich verprügeln wollten, weil ich pervers war. Aber dass ich pervers war, würde ihnen bestimmt bald wieder einfallen. Und am nächsten Tag würde es die ganze Schule wissen.
    Und so kam es, dass ich nicht mehr hinging.
    Ich wollte meine Mam nicht anlügen. Ich wollte nicht einer von diesen verlogenen Kerlen sein, die heuchelten, in die Schule zu gehen, wenn ich mich in Wirklichkeit den ganzen Tag in der Stadt rumtrieb, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen. Abend für Abend würde mich meine Mam unweigerlich fragen, ob ich endlich einen Schulfreund hätte. Aber ich schüttelte nur den Kopf, machte den Fernseher an und wünschte mir, sie würde endlich nicht mehr fragen. Es schien ihr so furchtbar wichtig. Mir war es egal. Es war leichter, wenn es mir egal war, denn dann machte es mir nichts mehr aus. Aber meiner Mam machte es etwas aus. Und eines Abends weinte sie und sagte, es breche ihr das Herz, dass ich keinen einzigen Freund hätte. Ich wollte aber nicht, dass meine Mam weinte und es ihr das Herz brach. Deshalb erfand ich Malcolm. Einzig und allein, um meiner Mam eine Freude zu machen.
    Malcolm war phantastisch. Ich machte ihn zum Amerikaner und erzählte meiner Mam, er sei in Baton Rouge geboren. Ich behauptete, sein Dad sei Musiker, ein Bassist, der hier in Europa auftrete, und Malcolm sei mitgekommen und gehe jetzt auf unsere Schule. Meine Mam war zufrieden gestellt. Und Malcolm und ich waren vom ersten Tag an, als er in unsere Englischstunde kam, die besten Freunde. Ich erzählte meiner Mam, ich hätte an jenem Tag einen englischen Aufsatz vorlesen müssen, über den danach diskutiert wurde. Und als Mr. Fuller ihn nach seiner Meinung fragte, sagte Malcolm: »Also, Sir, ich sag es ganz direkt: Raymonds Aufsatz ist sensationeller als das Turiner Grabtuch! Wow! Das hat mich glatt umgehauen, Raymond!«
    Meine Mam strahlte. Und seit Malcolm mein Freund war, wirkte sie wieder jünger und fröhlicher und sagte manchmal, vielleicht gehe es jetzt ja doch ein bisschen bergauf, nach all dem, was wir durchgemacht hatten. Meine Mam kochte uns wieder richtige Mahlzeiten mit frischem Gemüse und es gab keine Fertiggerichte und keine Tiefkühlkost mehr. Meine Mam wollte immer ganz genau wissen, was Malcolm und ich alles zusammen machten. Und ich erzählte von den amerikanischen Spielen auf dem Schulhof; und ich erzählte ihr, Malcolm müsse unter seinem Hemd zwei Sweatshirts tragen, weil er sich nach all den Jahren in Baton Rouge, wo es ja immer schwül und sonnig war, einfach nicht an das englische Wetter gewöhnen könne. Und Malcolm habe gesagt: »Mensch, Ray, dieses Wetter hier in Wythenshawe! Da friert sich ja ein Eisbär die Eier ab!«
    Meine Mam bog sich vor Lachen, als ich ihr das erzählte, und fand es natürlich schon ein bisschen unanständig.
    »Aber«, fuhr sie lächelnd fort, »wahrscheinlich ist das einfach Malcolms Art. Und dieses Wetter muss ja auch schrecklich sein für einen Jungen, der bei solchen Temperaturen aufgewachsen ist wie Malcolm. Ach«, sagte sie, »er tut mir richtig Leid. Armer Malcolm, das ist ja furchtbar, dass er hier auf diesem bitterkalten Schulhof frieren muss!«
    Und deshalb kaufte sie ihm den Pullover! Einen großen, dicken, grob gestrickten Pullover. Sie brachte ihn am nächsten Abend von Marks and Spencer’s mit nach Hause und packte ihn schön ein. Und ich sollte ihn tags darauf mit in die Schule nehmen und Malcolm geben. Was sollte ich nur mit dem Pullover machen? Ich musste ihn den ganzen Tag durch die Stadt schleppen. Irgendwann wollte ich ihn einem Obdachlosen schenken, der vor dem Arndale Center hockte und um Geld bettelte, weil er angeblich einen Hirntumor habe und seinem hungrigen Hund eine Dose Pedigree Pal kaufen wolle.
    »Ich hab zwar kein Geld«, sagte ich, »aber Sie können das hier haben, wenn Sie wollen.«
    Er schnappte sich das Päckchen und riss das Papier auf. Als er den Pullover sah, sagte er, nicht mal im Sarg würde er was von Marks and Spencer’s tragen. Er schmiss mir den Pullover hin und sagte: »Verpiss dich dahin, wo du herkommst, zu Blue Peter oder Unicef!« Also, ich glaub, in Wirklichkeit hatte der gar keinen Hirntumor.
    Am Ende warf ich den Pullover einfach in eine Mülltonne, doch ich hatte schreckliche Gewissensbisse. Denn er war nagelneu und meine Mam hatte ihn für teures Geld gekauft. Aber eigentlich konnte ich ja nichts dafür. Malcolm war

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