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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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die Liste der Gäste durchsah, hörte er, wie ein Mann in seinem Alter sich nach Herrn Hofmannsthal erkundigte. Er hatte sich weggedreht und war die Treppe hinaufgeeilt. Dabei war ihm eingefallen, wie er einmal in München im Hotel
Vier Jahreszeiten
– völlig unsinnig – vor Rilke floh, der ebenfalls dort abgestiegen war. Ein paar Tage lang hatten sie Billets ausgetauscht wegen eines Treffens, das dann doch nicht zustande kam, weil sie sich auf keine Stunde hatten einigen können. Als er abends aus seinem Zimmer getreten war und es abgeschlossen hatte, war Rilke in Begleitung und im Gespräch mit einer hochgewachsenen Dame am Ende des Ganges auf ihn zugekommen, und er war so erschrocken gewesen, daß er die Tür des Etagen-Office aufgerissen und darin in der Finsternis einige Minuten ausgeharrt hatte. Am ersten Tag in der Fusch hatte er sich im Speisesaal umgesehen und war erleichtert gewesen, daß die Brechts offenbar doch nicht gekommen waren. Momentan wäre es ihm äußerst unangenehm gewesen, sich zwei-, dreimal täglich einer Konversation unterziehen zu müssen oder nach Tisch einem gemeinsamen Spaziergang.
    Seit dem Erscheinen der
Eranos
-Festschrift war er von Walther Brecht enttäuscht: Den Beitrag über ihn, den Jubilar, hatte Brecht offensichtlich uninspiriert und in aller Eile verfaßt. Über einige Sätze hatte er den Kopf schütteln müssen, und es war ihm plötzlich klar geworden, daß für jene grundlegende Studie zu seinem Werk, über die sie in Wien mehrmals gesprochen hatten, mit Professor Brecht nicht zu rechnen war. Allzu billig, den
Jedermann
oder den
Rosenkavalier
zu loben. Beinah hatte er es bereut, Brecht das Manuskript mit den tagebuchartigen Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt zu haben, die er im Laufe der Jahre gemacht hatte. Hingegen war Brecht oft sehr anregend im Gespräch; merkwürdigerweise weniger, wenn er in Rodaun zu Besuch war, eher bei zufälligen kurzen Begegnungen, einem Zusammentreffen auf der Straße in Wien. Er hatte Brechts Heinse-Buch dabei und in Lenzerheide darin gelesen, auch im
Ardinghello
, hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Abscheu. Erstaunlich, schien ihm, wie tief Heinse sich in das mediterrane Lebensgefühl hatte einfühlen können.

ZURÜCK IM Ort ging er am Hotel vorbei, sah einige Herrschaften auf der Terrasse beim Kaffee sitzen, stellte sich auf die Brücke, wo der Weixelbach an der düsteren Hinterseite des Gebäudes in seinem tief geschürften Bett vom Berg herunterschoß, angeschwollen durch den Regen des Vortags; er stand auf der Brücke, ließ das Tosen eine Weile über sich ergehen, drehte sich um, ein paar Schritte, schaute auf der Talseite in das schäumende Gewässer. Einen Sprung da hinunter würde wohl keiner überleben.
    Ein langer Hupton erschreckte ihn; er hatte das Postauto gar nicht kommen sehen oder hören, der Fahrer hupte ein zweites Mal. Ja natürlich, er mußte die Brücke verlassen, sie war zu eng, gar nicht einfach für den Fahrer, sie zu überqueren. Das hieß, die verschüttete Straße nach Fusch hinunter war wieder freigegeben worden.
    Was würde die Post bringen? Er hatte noch nicht einmal alle von den gestrigen Briefen gelesen. Den von Richard Strauss wegen der
Ägyptischen Helena
mußte er bald bestätigen, auch jenen vom Poldy; wie früher jedoch jeden Brief ausführlich zu beantworten war ihm nicht möglich.
    Auf der Bank am Waldrand hatte er sich hineinversetzen können in sein Schattenreich, in die Gesellschaft seiner larvenhaften Figuren, die mehr oder weniger danach drängten, Gestalt, Kontur zu gewinnen, zum Leben gebracht zu werden … Während der Arbeit an dem neuen Stück erschien ihm manchmal die seltsamste Gesellschaft; keiner ahnte eigentlich, mit wem man alles beisammen war. Unter den Maskeraden der Figuren kam so viel Abgelebtes und Geträumtes, Vorübergeschwundenes und Ersehntes, nie Besessenes dicht an einen heran … Eine Stimme, eine Figur auftreten lassen – jene des
Timon
eben –, Spannung herstellen, eine Szene errichten, weitere Figuren … Waren nicht selbst die tiefsten Zustände in unserem Innern, dachte er, in der seltsamsten Weise mit einer Landschaft, mit atmosphärischen Zuständen verbunden?
    Manches hatte er notiert, skizziert, er hatte Dialoge ausprobiert, und Gott sei Dank war er auf seiner Bank ungestört geblieben. Was sollte er davon halten, dachte er, daß er sich dann, als er sein Puppentheater, wie er es nannte, auf jenem Marktplatz in Athen schließlich eröffnet hatte,

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