Der Fliegenpalast
wie sein Befinden heute sei. Die Baronin Trattnig sei hier in einer Kurbehandlung wegen ihrer angegriffenen Nerven …
»Ihre Nichte Elisabeth von Trattnig begleitet sie. Sehen Sie, ich bin derzeit bei der Baronin in Diensten, gewissermaßen als ihr privater Arzt. Sie ist viel auf Reisen, hat Geld, viel Geld, ihr Mann ist vor zwei Jahren bei dem Eisenbahnunglück in der Tschechoslowakei ums Leben gekommen, vielleicht erinnern Sie sich an die Zeitungsmeldung. Sie war meine Patientin im
Allgemeinen Krankenhaus
in Wien. Und mir hat der Dienst dort nicht zugesagt. Ohne viel zu überlegen habe ich ihr Angebot, sie zu begleiten, ihr Privatarzt zu sein, angenommen. Sie ist etwas … besitzergreifend, aber ich weiß mich zu wehren.«
Sie durchquerten das Foyer; ein Herr in einem Trenchcoat saß in einem Fauteuil, umgeben von Gepäckstücken, blickte auffällig zu ihnen herüber.
»Die haben hier anscheinend bloß das
Wiener Journal
«, sagte H. zu Krakauer, »oder jemand sitzt auf der
Presse
«, und lud ihn mit einer Armbewegung ein, ihn zu begleiten.
»Das
Journal
«, setzte er hinzu, »druckt derzeit auf der letzten Seite einen Fortsetzungsroman ab. Die tägliche Zusammenfassung beginnt heute mit:
Der berühmte Bildhauer Rudolf Kerr hat sich in die russische Fürstin Tatjana Kengarin verliebt …
– oder so ähnlich. Kennen Sie jemanden, der so etwas liest?«
»Aber natürlich«, antwortete Krakauer, »alle Welt. Das war ja immer schon so. Sie wissen wie ich, auch in den sogenannten höheren Ständen hat man die Romane der Marlitt und Ähnliches gelesen, und natürlich die Fortsetzungsromane in den entsprechenden Journalen.«
Als sie den schotterigen Weg am Kurhaus und an der Apotheke vorbei entlanggingen, erzählte H., er habe seit ein paar Jahren immer wieder Träume von Wänden, Zimmerwänden, nein, Kulissenwänden, wie in einem Theaterstück, die, während er liege, näher rückten, ihn schließlich zu erdrücken drohten; bisher sei er immer vorher aufgewacht … Heute nacht sei ja der Strom wieder ausgefallen; gut, daß man im Zimmer auch eine Petroleumlampe stehen habe.
»Seit meiner Kindheit«, fuhr er fort, »war ich bis zu meiner Verheiratung mit meinen Eltern jeden Sommer in Bad Fusch. Im Juli in der Fusch, das besonders meiner an Neurasthenie leidenden Mama sehr gut getan hat, und dann Ende Juli Übersiedlung nach Strobl am Wolfgangsee …
Ich war gerade mit einem Freund, einem Schweizer, in Graubünden verabredet; er ist übrigens nach Kriegsende einige Jahre Gesandter in Wien gewesen, Carl Jacob Burckhardt. In den drei Wochen dort in Lenzerheide wollte ich ein Theaterstück beenden, oder wenigstens sehr weit damit kommen. Aber so günstig für mein Vorhaben mir dieser schöne Ort und das ausgezeichnete Hotel bei der Ankunft erschienen waren, so verzweifelt war ich nach der ersten Woche … Ein Ort ohne Geist, wenn Sie sich vorstellen können, was ich meine. Die Seehöhe hätte gestimmt – vielleicht etwas zu hoch für mich, fast tausendfünfhundert Meter, um die tausend wäre erfahrungsgemäß die ideale Höhe …– Fusch hat um die zwölfhundert. Das Wetter war angenehm, aber meine Phantasie blockiert, ich konnte nichts tun. Da ich mich in das Theaterstück, an dem ich arbeite, überhaupt nicht hineinfinden konnte, egal ob bei Tag oder Nacht, hab ich mich in Gedanken wieder mit einem alten Romanprojekt beschäftigt. Aber was rede ich da …«
Sie hatten das kleine Postamt erreicht. Er zog einige Briefe aus der Rocktasche und steckte sie in den Kasten neben dem Eingang.
»Glücklicherweise«, sagte er zu Krakauer, »ist der Barometerstand heute nicht ungünstig, viel besser als gestern; es kann noch werden in den nächsten Tagen.«
Er lüftete seinen Hut, es juckte ihn am Scheitel.
»Wenn man jung ist, wissen Sie … Ein verregneter Sommer ist ärgerlich. Wie oft habe ich es erlebt, gerade hier in Bad Fusch. Aber Gedichte sind auch bei niedrigem Barometer entstanden. Jetzt jedoch … Man wird ungeduldig, je älter man wird.«
Er blieb stehen, trat mit Krakauer zur Seite, drei Sommergäste kamen ihnen nebeneinander gehend entgegen, machten keine Anstalten, auszuweichen.
»Die Zahl der Jahre, die man noch vor sich hat, wird immer geringer: Ein verpatzter Sommer, und dann womöglich noch ein Dauerregen im Herbst, wird bald einmal zur Katastrophe. Manchmal, schon vor vielen Jahren, habe ich mir überlegt, ob es nicht gescheiter gewesen wäre, wie mein Freund, der Freiherr von Andrian, mit zwanzig
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