Der Fliegenpalast
Jahren aufzuhören mit dem Dichten, in den Staatsdienst einzutreten oder Vorlesungen an der Universität zu halten.«
»Sie sind doch noch nicht alt«, widersprach Krakauer. »Sie sind in den besten Jahren, sicherlich werden Sie noch viele großartige Sachen schreiben. Wenn ich nur helfen könnte … Wenn wir in Wien wären, würde ich Ihnen den Primar Sonnleithner empfehlen, einen der bedeutendsten Herzspezialisten. Ich würde darauf bestehen, daß Sie sich – entschuldigen Sie bitte – von ihm gründlich untersuchen lassen. Auch Ihre Augen sollten Sie einmal …«
H. erwiderte, er habe schon in seiner Jugend Probleme mit seinen Augen gehabt: »Aber gerade hier in der Fusch haben wir ja die berühmte Augenquelle. Waren Sie schon einmal dort? Man muß durch die Schlucht, den düsteren Weg vom Hotel gleich rechts hinunter, vorbei an dem Krämerhaus … Also ich bin immer zweimal am Tag zur Augenquelle spaziert, habe mir die Augen benetzt, am Vormittag, und dann noch einmal nach dem Abendessen, und ich hab in der Fusch mit den Augen niemals Beschwerden gehabt. Ich sollte es auch jetzt … Die viele Post – wegen der Arbeit lasse ich ohnehin fast alles liegen … Bräuchte dann wahrscheinlich für die Heimreise einen eigenen Koffer für all das, was sich anhäuft, Briefe, Zeitschriften, Bücher … Aber der Mensch ist ein sonderbares Wesen: Gestern sind bloß zwei Briefe gekommen, und das war mir dann auch nicht recht. Ich hab mich gefragt, was los sei, ob die Welt mich vergessen habe.«
Krakauer sagte, er habe acht Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht, auf der
Columbia
sein Studium begonnen. Sein Vater habe ihm neunzehnhundertsiebzehn verboten heimzukehren, solange der Krieg noch dauere – sein älterer Bruder sei in Rumänien gefallen.
»Neunzehnhundertachtzehn habe ich mein Studium abgeschlossen, hab eigentlich zurück wollen nach Wien. Ursprünglich hatte ich überhaupt höchstens zwei Jahre bleiben wollen, aber das Leben in Manhattan hat mir sehr gefallen, die Großzügigkeit und die Offenheit der Menschen haben mich beeindruckt. Als ich dann nach dem Krieg zurückgekehrt bin, hatte ich Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden. Auf einmal erschien mir alles so leblos und diffus, sogar gehässig. Die Schikanen, bis ich die Nostrifizierung erhielt, um endlich in Österreich als Arzt tätig werden zu können.«
H. sagte, er habe vor vielen Jahren eine Erzählung in Briefen geschrieben, die
Briefe des Zurückgekehrten
. Er bot ihm an, ihm den soeben erschienenen Band, in dem dieser Text enthalten war, zu leihen.
Sie erreichten das Hotel.
»Wie gerne würde ich endlich etwas von Ihnen lesen!« rief Krakauer.
H. erwiderte, er werde ihm den Band beim Portier hinterlegen.
»Leider habe ich«, sagte er, »mein Fläschchen Melissengeist im Lenzerheider Hotel stehen lassen. Aber ich möchte ohnehin heute oder morgen für ein paar Stunden nach Zell am See hinunter.«
Er wollte noch sagen, er hoffe, in Zell nicht dem Herrn Windhager zufällig zu begegnen, dem Inhaber des
Seehotels
, der nach dem Krieg Präsident der Raimund-Gesellschaft geworden war; dieser ehrenwerte Herr habe ihn wegen eines Aufsatzes über Raimund schon ein paar Mal …
Plötzlich trat ihm eine voluminöse Dame in den Fünfzigern in den Weg, mit einem breitkrempigen weißen Hut auf dem Kopf.
»Herr von Hofmannsthal! Welche Ehre, Ihnen zu begegnen. Vor zwei Jahren habe ich das
Große Welttheater
in dieser Kirche in Salzburg gesehen, wunderbar, wunderbar! Wir hofften, diesen Sommer den
Jedermann
zu erleben …«
»Freut mich«, murmelte er und drängte an der Dame vorbei.
»Sebastian! Wo warst du? Wir wollten doch … wir haben noch zwei Koffer in der
Post
!«
H. blickte sich nach Krakauer um, dieser reichte jetzt der Dame den Arm – es handelte sich offensichtlich um seine Baronin. Sebastian? Das erinnerte ihn wieder an den Sebastian Isepp, an die Italienreise im Frühjahr … Eine mollige junge Frau schien ebenfalls zu der Baronin zu gehören, es war wohl die Sängerin. Sie gab der Baronin ein Döschen oder irgend etwas anderes aus ihrer Handtasche.
Jetzt war ich wieder einmal unhöflich, durchfuhr es ihn, sehr unhöflich. Aber wenn er etwas nicht aushalten, immer weniger aushalten konnte, dann waren es alle diese Damen, die ihn so oft an seine Schwiegermutter erinnerten. Die Gerty wurde ihr ähnlicher, aber das war etwas anderes. Trotzdem, überlegte er, was wäre ich, was wären wir …? Ohne sie wären ja die Theatersäle halb leer
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