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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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näherte sich vom Dorf herauf ein junger Mann. Ob der Doktor Krakauer jetzt seine Gesellschaft meiden würde? Das hätte ihm sehr leid getan. Achtzehnhundertsechsundneunzig, dachte er, mein Gott, war das ein schöner Spätsommer und Herbst gewesen, es war das Jahr meiner Reifeprüfung. Zu spüren, wie man aus der Eingesponnenheit in sich selbst auf einmal heraus gelangte, die Welt wirklich wahrnahm. Und dann – was Stefan George
sich anbiedern an die Masse
nannte – in den Notizbüchern immer häufiger Entwürfe für Dramen und Bearbeitungen.
    Jener Abend, erinnerte er sich, als er in Altaussee an der unbewohnten Villa Andrian vorbeispaziert war; es war überhaupt das erste Mal gewesen, daß er sich ohne die Eltern in Aussee aufhielt. Die Andrians schon lange abgereist, aber durch ein geöffnetes Fenster hatte er, als er näher kam, einen im Aufundabgehen singenden Mann bemerkt, der sich – durch die Fensterreihe konnte er es beobachten – im anschließenden Zimmer an ein Klavier setzte und weitersang; es klang nach Brahms. Wie er ihm einige Tage später in einem Gastgarten im Kreis der noch verbliebenen Freunde vorgestellt wurde: Raoul Richter, ungefähr im gleichen Alter, aus Norddeutschland, verwandt mit den Andrians, nach schwerer Krankheit für ein paar Wochen hierher eingeladen. Weil es ihm an Richter gefallen hatte, versuchte er, sich auch bloß alle drei, vier Tage zu rasieren. (Er sehe aus wie ein Lohnkutscher, hatte der Felix Oppenheim daraufhin gemeint.) Wie sie sich langsam angefreundet hatten. Er war der erste seiner Freunde aus dem Norden.
    Unvergeßlich jener Abend, als Richter ihn im Dunkeln in den Wald führte und ihm eine alleinstehende riesige Tanne zeigte und erklärte, es sei sein letzter Tag, morgen früh reise er ab.
    Jahre später hatte er den Weg zu dieser Tanne gesucht, aber nicht gefunden. Dafür hatte er, als er einmal von Altaussee über Obertressen nach Bad Aussee wanderte, eine Bank unter einer Linde entdeckt, sich hingesetzt und sofort gemerkt: ein Platz zum Arbeiten! Und als sie dann – mittlerweile eine fünfköpfige Familie – das Bauernhäusl in Obertressen mieteten, hatte er bei einem ersten Erkundungsgang diese Bank wiedergefunden; der Bauer hatte ihm ein kleines Tischchen davor aufgestellt. Dort hatte er am
Florindo
und an den ersten Entwürfen für den
Schwierigen
gearbeitet. Seit er die Bank einmal von einem älteren Wiener Paar in Wanderkleidung besetzt fand, das dort Brot, Speck und Essiggurken auswickelte, dachte er künftig jedesmal, wenn niemand dort war: Der Tag ist gerettet! Sich an der Aussicht, an einer Landschaft zu erfreuen, gelang ihm immer seltener. Er hatte Zustände bekommen, als Wassermann ihn auf dem Gipfel des Loser auf das »phantastische Gebirgspanorama« hingewiesen hatte. Immer häufiger schien es ihm, alle Konturen würden sich verwischen.
    Seit dieser unselige Krieg losgegangen war, hatte er jene aus rohen Brettern gezimmerte Bank nicht mehr aufgesucht. Als Eberhard von Bodenhausen ihm im zweiten Kriegsjahr schrieb:
Meine Gedanken suchen Dich in Aussee und an dem kleinen Tischchen im Wald
…, da hatte er sich beinah verletzt gefühlt und geantwortet:
Diesen Platz habe ich nicht wiedergesehen, diesen Wald nicht wieder betreten. Ich kann es nicht. Mein Herz hängt zu sehr an allen diesen Dingen, daß ich mit zusammengedrücktem Herzen, mit schwer gefesselter Seele dort nicht hin will, von wo aus ich so aufsteigen und niedersteigen konnte ins Glück der Unendlichkeit … Es ist viel, daß ein Mensch dies haben darf – aber es ist furchtbar schwer, es mitten im Leben zu entbehren. Denn so wie dieses Wäldchen, wie die Welt selber, so liegt auch meine innere Welt vor mir: als ein nicht zu betretendes

    Dieser Sommer ist ja doch nicht verloren, hatte er in jenem schwierigen Jahr neunzehnhundertneunzehn gedacht. Das Märchen, die Prosaversion der
Frau ohne Schatten
, zu Ende gebracht, vielleicht seine beste Arbeit. Nach monatelangem Kranksein hatten ihn die drei Juliwochen im Fuscher Tal, in denen er nicht einmal eine Zeitung gelesen hatte, wiederhergestellt. Der
Schwierige
so gut wie fertig, eine dicke Mappe mit Notizen zur Fortsetzung des Romans, einige neue Lustspiele konzipiert und schematisiert. In den Komödien konnte er die Leute mit ihren Schwächen, in ihrer Lächerlichkeit ernst nehmen. Die Verhandlungen in Salzburg waren glücklich verlaufen, und der Moissi hatte endlich verbindlich zugesagt, im nächsten Sommer den
Jedermann
auf dem

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