Der Fliegenpalast
Domplatz zu spielen.
ABRUPT DREHTE er sich um. Hinter ihm auf dem Weg war niemand zu sehen, auch nicht oben auf dem winzigen ebenen Platz vor der kleinen, etwas erhöht am Waldrand befindlichen Kirche. Es saß auch zur Zeit niemand auf einer der Bänke gegenüber der Kirche, auf dem kleinen Platz, dem sogenannten
Park
zwischen den vor unzähligen Jahren kreisförmig gepflanzten Kastanienbäumen. Jetzt freute er sich auf eine Tasse Tee. Seit der Portier ihm vor zwei Tagen hinter vorgehaltener Hand gesagt hatte, ein junger Mann, ein Deutscher wahrscheinlich, habe nach Herrn von Hofmannsthal gefragt, war er manchmal nahe daran, Gespenster zu spüren …
»Ich habe mich aber«, hatte Herr Widmayer gesagt, »erinnert, worum Sie mich bei Ihrer Ankunft gebeten haben.«
Er hatte dem Portier gedankt, und es war ihm wieder bewußt geworden, daß man wegen der Unsummen, auf welche die Banknoten heutzutage lauteten, automatisch mit dem Trinkgeldgeben zögerte. Er hatte sich gewünscht, ungestört zu sein in der Fusch, und dieser Wunsch hatte sich – bis jetzt jedenfalls – erfüllt; gleichzeitig hatte er den Eindruck, noch an keinem Ort der Welt so verlassen gewesen zu sein wie hier.
Es war beinah so wie in seinen Kindheitsjahren, als er sich in der Fusch oft furchtbar einsam gefühlt hatte. Die Eltern hatten ihre Bekanntschaften gehabt. Viele Kurgäste aus Graz und Wien, ja aus New York, Manchester oder Düsseldorf kamen wie sie jedes Jahr wieder hierher, aber ihn langweilten diese alten Damen und die Herren, welche den Zylinder mit dem Tirolerhut vertauscht hatten und sich auf unglaubliche Weise mit dem niedrigen Komfort hier abfanden. Dazu die häufigen Regenfälle, so daß er oft nicht einmal spazierengehen oder eines der mitgebrachten Bücher in einem Winkel der Hotelterrasse lesen konnte.
Erst Jahre später, als er dann Gedichte schrieb und den Wiener Schriftsteller Gustav Schwarzkopf kennenlernte, war der Aufenthalt in der Fusch ihm erträglicher geworden; trotzdem sehnte er jedes Mal die anschließenden Wochen in Strobl am Wolfgangsee herbei, wo er schwimmen, segeln, Tennis spielen konnte, wo er seinen liebsten Freund, Edgar Karg von Bebenburg, kennenlernte und immer wieder – meistens für kurze Zeit – traf, weil dieser als Seekadett der K. K. Marine niemals länger als zwei Wochen Urlaub erhielt, wobei ja zuerst einmal seine Mutter Anspruch auf ihn hatte, seine Freundin Lisl Nicolics und seine Schwester.
Seit er gestern in der Post den Zettel von seiner Frau gefunden hatte, auf dem sie ihm mitteilte, daß Christiane weiter mit dem Rudolf Borchardt Briefe wechsle, daß jemand aus dem Kreis um Borchardt ihrer beider Streit schlichten, sie versöhnen wolle und um Angabe seines Aufenthaltsortes gebeten hatte, irritierte ihn die Vorstellung, es könnte tatsächlich jemand in die Fusch heraufkommen und ihn mit dieser leidigen Angelegenheit behelligen. Die Sache mit Borchardt konnte, davon war er überzeugt, wenn überhaupt, nur die Zeit wieder ins Geleise bringen. Eine Intervention würde alles nur noch verschlimmern, der Meinung war auch Carl gewesen. Rudolf – das war ihm damals sofort klar geworden – hatte in seinem Essay einfach keine Sprache gefunden, um etwas über ihn und seine Sachen zu schreiben. Wer wüßte denn besser als er, wie schwierig das ist, für eine Zeitschrift, für einen bestimmten Anlaß etwas zu schreiben, ohne die Zeit, die es braucht, um sich mit einem Werk gründlich auseinanderzusetzen. Die Gerty hatte es immer wieder erlebt, wie er gestöhnt, wie oft er eine Zusage bereut hatte, und wie dann letztendlich unter vielen Mühen doch etwas zustande gekommen war, obwohl er gar nicht wußte, wie. Allerdings, in jener Festschrift zu seinem fünfzigsten Geburtstag war allzu viel danebengegangen. Borchardt hatte ihm offenbar einen fertigen oder halbfertigen brillanten autobiografischen Exkurs über seine Jugendjahre, seine Erziehung und Ausbildung in der reichsdeutschen Gründerzeit gewidmet und dazu uninspiriert über die Jugendwerke des Jubilars referiert. »Ist das, was ich seither gemacht habe, also ein Nichts?« hatte er zur Gerty gesagt, als diese ihn hatte beruhigen wollen. »Schau dir bitte all die Blumen an«, rief sie, »dieses Meer von Blumen im Salon – ist das denn nichts?«
SOEBEN HABE ich mich nach Ihnen umgedreht, lieber Herr Doktor Krakauer. Neulich sind Sie mir ja tatsächlich einmal in persona gefolgt, als ich Sie auf der Höhe der Kirche hinter mir spürte. Dieses Mal
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