Der Fliegenpalast
Sonntag zurück. Ich liebe Salzburg seit meiner Kindheit, hatte mir vor meiner Abreise aus der Schweiz vorgestellt, wenn ich in der Fusch mit der Arbeit gut vorankäme, für zwei Tage in das liebenswerte Städtchen zu gehen, mich zu belohnen, mich im
Tomaselli
auf die Terrasse zu setzen und auf den Alten Markt hinunterzuschauen. Seit dem Krieg hat sich auch dort vieles verändert, aber im
Tomaselli
haben sie noch zwei Ober, die vorher schon bedienten, denen ich nicht zu sagen brauche, welchen Kaffee, welche Zeitung ich haben möchte – auch wenn ich schon Jahre nicht mehr dort gewesen wäre. Jetzt mit dem Postautobus ist die Reise ja nicht mehr so zeitraubend wie früher. Aber Sie – oder die Baronin? – haben Ihr eigenes Automobil. Sollte sich meine finanzielle Lage in den nächsten Jahren verbessern, so könnten wir uns auch so ein praktisches Fahrzeug anschaffen. Es bietet viele Vorteile, wie ich jüngst in Graubünden erlebt habe
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Wenn ich mir vorstelle, welche Strapazen die Menschen – auch meine Eltern – um neunzehnhundert auf sich nahmen, um von Wien nach Bruck und weiter nach Bad Fusch zu kommen – allein dies schon eine Tagesreise – und dann noch mit dem Pferdefuhrwerk auf der schmalen Elendsstraße hier herauf! Manchmal waren wir bei der Ankunft so erschöpft, daß wir ohne Abendessen in die Betten gesunken sind …
Auf der Reise von Buchs nach Zell am See hatte ich mir vorgenommen, in Bad Fusch keine Briefe zu schreiben, mich völlig auf die Arbeit, auf das Theaterstück zu konzentrieren. Aber es ist alles anders gekommen. Oft erschrecke ich selber über mich, wie menschenscheu ich geworden bin. Und wenn mich hier nun andererseits keiner mehr kennt, keiner nach mir fragt, irritiert es mich doch auch manchmal. Es bleibt mir nichts übrig, als mir einzubekennen, daß dieser Krieg den Untergang unserer brüchigen Kultur in einem Ausmaß beschleunigt hat, das ich mir nicht vorzustellen vermocht habe. Und es fällt mir schwer, zu gestehen, daß auch ich den Krieg ursprünglich für richtig hielt. Allerdings kannte ich wie die meisten die Hintergründe nicht, die unendliche Dummheit, mit der in Wien wie in Berlin von ein paar Leuten im Sommer neunzehnhundertvierzehn alles vorangetrieben wurde. Wie viele andere wünschte ich, daß einmal richtig dreingeschlagen würde. Dies könnte die Dinge zurechtrücken, stellte ich mir vor …
Als an meinem zweiten Tag in Bad Fusch der Portier mir hinter vorgehaltener Hand mitteilte, ein junger Herr aus Deutschland habe nach mir gefragt, fürchtete ich, der Kreis um Rudolf Borchardt habe jemanden gesandt, um eine Versöhnung zu erreichen. Sie müssen wissen, daß Anfang des Jahres zu meinem fünfzigsten Geburtstag eine Festschrift erschien, unter anderem mit Beiträgen einiger meiner engsten Freunde. Das war alles gut gemeint und erregte mich, als ich anfing, die Beiträge zu lesen, doch dermaßen, daß ich mich ins Bett legen mußte. Die Freundschaft mit Borchardt ist wohl vorbei
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Andererseits stellte ich mir vor, Rudolf Pannwitz hätte – wie einmal schon – einen Abgesandten hergeschickt, ein Autor, dessen Schriften, vor allem seine
Krisis der europäischen Kultur,
ich teilweise in jenen schweren letzten Kriegsjahren sehr bewunderte … Dieser Mensch schickte mir vor Jahren fast täglich lange Briefe ins Haus, manchmal zehnseitige und längere. Schon das Lesen dieser Briefe kostete mich viel zuviel Zeit. Zudem entpuppte der Mann sich als ein unverschämter, manchmal halb irrsinniger Mensch, so daß ich – nachdem ich zuerst jahrelang in Wien für ihn Geld gesammelt hatte – den Verkehr nach und nach abbrechen mußte. Schließlich der Universitätsprofessor Brecht, dem ich, als er mich nach einer Sommerfrische fragte, den Luftkurort Bad Fusch empfohlen hatte, natürlich bevor ich in der Schweiz auf die Idee gekommen war, selbst hierher zu reisen. Mit ihm unterhalte ich mich manchmal sehr gerne, er verfügt über ein großes literarisches Wissen, aber hier möchte ich ihn derzeit nicht haben. Er und seine liebenswürdige, aber vielredende Frau würden mich zu sehr ablenken
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Schon viel zuviel davon, lieber Herr Krakauer: Eigentlich wollte ich bloß erklären, wie sehr Menschen mich momentan erschrecken, besonders, wenn sie etwas von mir wollen – und damit mein unverzeihliches Verhalten gegenüber der Baronin erklären. Aber zu entschuldigen ist es nicht
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Momente gibt es im Leben, Herr Doktor, die wie Marksteine sind, Augenblicke, in denen uns klar
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