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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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erwecken, er darf …
    Dann dachte und fühlte ich gar nichts mehr. Es wurde schwarz um mich.

II.
    Der Schrei, dieser verzweifelte, angsterfüllte, durchdringende Schrei, der da aus ihrer Kehle gekommen war, war verklungen. Aber nicht, weil die Panik nachgelassen hatte, sondern weil sie keine Kräfte mehr hatte.
    Eine Weile lang lag sie erstarrt und erschöpft in ihrem sargähnlichen Gefängnis, hilflos den Schmerzen in ihrem Kopf ausgeliefert – und ihrer Angst.
    Gab es eine Möglichkeit, sich zu befreien? Sollte sie warten, bis die Schmerzen nachgelassen hatten, oder es gleich versuchen?
    Wimmernd wälzte sie sich zur Seite. Der Schmerz verlagerte sich etwas, schien vom Hinterkopf in den Nacken zu rutschen. Viel erträglicher wurde er dabei nicht, aber die Möglichkeit, ihn ein klein wenig zu mindern, ließ die Panik schwinden. Es ist eng, sagte sie sich, es ist schrecklich eng – aber sie war nicht ganz bewegungslos, und sie war auch nicht gefesselt. Es gab also Hoffnung, oder etwa nicht?
    Als sie ihre Handgelenke berührte, brannte es dort. Ich bin nicht mehr gefesselt, ging ihr auf.
    Auch wenn sie jetzt von den Stricken befreit war – sie war es also gewesen. In ihrem Gefängnis hatten die Entführer sie unter Kontrolle, aber zuvor hatten sie sie bändigen müssen, als sie mit den Armen wild um sich geschlagen hatte. Krampfhaft versuchte sie sich an das, was ihr zugestoßen war, zu erinnern. Die Bilder huschten grell und hastig wie Blitze vor ihrem inneren Augen vorbei, keines blieb lang genug, um es richtig zu sehen. Je mehr sie zu erkennen versuchte, desto undeutlicher wurden die Eindrücke. Als die Blitze nicht länger einschlugen, wartete nicht die Erkenntnis, sondern das Nichts.
    Sie wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war. Aber sie wusste immer noch nicht, wer sie war.
    Anstelle der Panik wuchs nun das Gefühl der Ohnmacht in ihrer Brust – leise und lähmend. Es drängte sie nicht dazu zu schreien, sondern zu weinen, so lange, bis sich alles – die fehlenden Erinnerungen ebenso wie die Schmerzen im Kopf – in Tränen aufgelöst hatte.
    Aber das durfte sie nicht! Sich den Tränen zu ergeben hieße, in Verzweiflung zu ertrinken!
    Sie atmete tief ein und aus, entschied dann, ganz langsam vorzugehen. Anstatt den blitzartigen Bildern nachzujagen, versuchte sie sich an das Naheliegende zu erinnern. Sie war also gefesselt gewesen, ihre Handgelenke fühlten sich wund an. Aus welchem Material waren die Fesseln gewesen? Wusste sie das noch? Ihre Handgelenke brannten, als sie sie erneut befühlte.
    So hastig … so grob … war sie gefesselt worden. Wer immer es getan hatte, hatte nicht viel Zeit gehabt.
    Hatte sie diesen Menschen gesehen?
    Sie schüttelte den Kopf. Nein, antwortete sie sich selbst. Ehe sie etwas hatte erkennen können, war etwas Dunkles über ihren Kopf gestülpt worden … kein Plastik, sondern etwas aus Leinen, ja … ein Leinensack, man hatte ihr einen Leinensack über den Kopf gestülpt, damit sie nichts erkennen konnte. Und noch an etwas anderes konnte sie sich erinnern: Während sie von jemandem gefesselt worden war, hatte sie ein anderer festgehalten. Es waren also mindestens zwei Entführer gewesen. Einer der beiden hatte ihr am Ende den Schlag auf den Kopf versetzt, so fest, dass sie gedacht hatte, sämtliche Knochen würden zerspringen.
    Aber sie waren noch heil. Sie lebte noch. Und auch ihre Erinnerungen waren nicht tot, zumindest nicht alle; sie musste sich nur leise, unauffällig an sie heranpirschen, einem Raubtier gleich, das seine Beute in Sicherheit wiegt, bis es plötzlich zuschnappt.
    Doch dann konnte sie sich nicht länger anschleichen. Ein Licht traf sie – und es hatte nichts gemeinsam mit den Erinnerungsblitzen. Es war blass, fiel durch einen sehr engen Spalt. Sie riss die Augen auf. Jemand schien vor ihrem Sarg zu stehen, das Licht darüber kreisen, den Schein von einer Ecke zur nächsten wandern zu lassen.
    Sie wälzte sich wieder auf den Rücken, spannte alle Muskeln an, vernahm ein Gemurmel und Schritte. Das Gefühl, nicht länger allein zu sein, war überwältigend – zuerst, weil es sie eine große Erleichterung empfinden ließ, dann, weil neue Panik in ihr hochstieg.
    Ja, sie war nicht länger allein, aber instinktiv wusste sie, dass da draußen niemand war, der sie retten würde, sondern jene Menschen … jene Wesen … die sie überwältigt, entführt und in den Sarg gesperrt hatten.
    »Sophie!«
    Zuerst war da nur eine Stimme, dann ein

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