Der Fluch der Druidin
Räuber als Krieger!«
Der andere Junge hatte ihn mit offenem Mund angeglotzt. »Sag das noch einmal!«, hatte er ihn aufgefordert, nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.
Nando hatte seine Worte wiederholt, und noch ehe der letzte Laut verklungen war, hatte er alleine am Feuer gesessen. Die anderen Jungen waren hastig aufgesprungen, so als wollten sie zeigen, dass sie nicht auf seiner Seite standen.
Sein Gegenüber hatte nach einer Axt gegriffen. »Starke Worte, Bürschchen! Aber wir wissen ja, dass du aus einer Familie von Feiglingen und Verrätern stammst! Vielleicht sollten wir dir deine Zunge abschneiden, bevor du dich damit verletzt?«
»Ich bin kein Verräter!« Nandos Atem war auf einmal schwerer gegangen. Wie oft war ihm dieses Wort bereits entgegengeschleudert worden – von Kindern, von alten Kriegern und jungen Hitzköpfen, denen es gleichgültig war, dass er sein eigener Herr war, dass er kein Erbe akzeptierte, das nicht seinem eigenen Willen und seinen eigenen Taten entsprang. Nando hatte es satt. Er hatte sich geschworen, dass dies das letzte Mal sein sollte. »Ich habe meinen Eid Boiorix persönlich geschworen! Er selbst hat mich dazu eingeladen! Du bist ja noch nicht einmal in seine Nähe gekommen, um mir die Farbe seiner Schuhe sagen zu können!«
»Unser König muss besoffen gewesen sein, als er dich zu sich ließ!«, hatte der Ältere gehöhnt. »Ich sollte ihn von dir erlösen, bevor er sich noch mehr zum Narren macht!«
Nandos Kopf hatte sich wie der einer Schlange kurz vor dem Zustoßen gehoben. Langsam hatte er sich in die Höhe gestemmt und war auf den anderen zugetreten. »Du nennst mich einen Feigling und unseren König einen Narren?«
Nando war unbewaffnet gewesen. Sein Gegner hatte es bemerkt und so breit gegrinst, dass sich Speichelfäden zwischen seinen Zähnen gezogen hatten. Er hatte nicht geantwortet.
Nando hatte ihn mit bloßen Händen getötet. Ohne Vorwarnung war seine Faust vorgeschossen und hatte den Kehlkopf des älteren Jungen zerschmettert, noch bevor dieser Zeit gefunden hatte, seine Deckung hochzureißen. Einen Herzschlag lang, in dem er zugesehen hatte, wie der andere sterbend in die Knie gebrochen war, hatte Nando Befriedigung empfunden, die jedoch kurz darauf Ekel gewichen war. Er hatte sich umgedreht, war an den anderen Jungen vorbei an den Rand des Feuerscheins gestolpert und hatte seine letzte Mahlzeit hochgewürgt. Während er sich erbrochen hatte, war langsam das Röcheln des Sterbenden verklungen. Stille hatte sich ausgebreitet. Er hatte die Blicke der anderen Jungen in seinem Rücken gespürt, eine Mischung aus Schock, Furcht und widerwilliger Bewunderung. Als Nando sich schließlich wieder aufgerichtet und mit den Handrücken über den Mund gefahren hatte, hatte Boiorix am Rande des Feuerscheins gestanden. Ihre Blicke hatten sich gekreuzt, und der König hatte ihm zugenickt.
Nando war vierzehn Jahre alt gewesen.
»Hast du viele Menschen getötet?« Sumelis’ Frage hallte noch immer in seinem Kopf nach und störte die heraufflutenden Erinnerungen mit ihrem penetranten Echo. Es war eine Frage, auf die er mit Stolz hätte antworten können, stattdessen hatte er gesagt: »Wenn ich barmherzig war.«
Nando schnaubte leise. Wieso hatte er das gesagt? Weil Menschen zu töten nicht das Schlimmste war, was ein Mann tun konnte, und weil er wollte, dass Sumelis diese Lektion verstand? Doch weshalb sollte er das überhaupt wollen? Er sollte es einfach vergessen.
Eine Hexe.
Der Druide, der ihm Sumelis’ Anwesenheit in Alte-Stadt verraten hatte, hatte ihn gewarnt. »Sie ist eine Zauberin, Nordmann! Sie kann deine Seele sehen! Sie kann dich verdammen und mit einer einzigen Berührung ihrer Hand vernichten! Sei vorsichtig!«
Er hatte dem Druiden nicht geglaubt, und vielleicht war das ein Fehler gewesen. Womöglich war Sumelis doch gefährlich, auch wenn er bis jetzt keine Magie an ihr bemerkt hatte. Vielleicht konnte sie tatsächlich Einfluss auf ihn ausüben und …
Und was?
Nando zuckte mit den Achseln. Er wusste, wer er war und welche Aufgabe er hatte. Ob er eine Seele hatte oder nicht, interessierte ihn eigentlich nicht. Er hatte bis jetzt ganz gut ohne sie gelebt. Wahrscheinlich war sie wie ein sechster Finger: Egal, was mit ihr geschah, Verletzung oder gar völlige Abtrennung – im Grunde war ihr Verlust bedeutungslos. Was übrig blieb, war immer noch genug.
Auch Sumelis grübelte über die Antwort nach, die Nando ihr auf ihre unbedachte Frage
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