Der Fluch der Druidin
seinen Sohlen bis zum Kopf reichte und den fast drei Fuß dicken Berg an aufgehäuften Zweigen, Blättern, Gräsern, Farnen, Moos – alles, was sie hatte finden können – trug, welcher den Unterstand wetterfest machte und die Wärme im Inneren hielt. Nandos Taschen verschlossen bei Wind oder Regen den Eingang, und obwohl er von dort, wo er lag, nur wenig mehr außer Sumelis’ Rücken erkennen konnte, vermutete er, dass sie sich selbst einen ganz ähnlichen Unterstand auf der anderen Seite des Baumstamms gebaut hatte. Nando hätte gerne gewusst, wer ihr das beigebracht hatte.
»Wieso bist du geblieben?« Diesmal war seine Stimme nicht mehr ganz so schwach und krächzte weniger, doch Sumelis hatte ihn bereits das erste Mal verstanden. Er hörte sie tief Luft holen, bevor sie sich zu ihm umdrehte, die Beine an den Körper zog und die Unterschenkel mit den Armen umklammerte. Die Bewegung war die eines Mädchens, das in der eigenen Umarmung Trost sucht, umso seltsamer erschien Nando daher die reife Gelassenheit, mit der sie antwortete: »Ich bin mir nicht sicher.«
»Du hättest fliehen können.«
»Ich weiß.«
»Du könntest schon auf halbem Weg zu deinem Großvater sein. Du hättest jemanden holen können, der mich tötet. Oder mich selber töten können.«
»Nachdem ich dich zusammengeflickt habe?« Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Du verschwendest doch auch keinen Augenblick deiner Zeit. Wieso denkst du also, dass ich das tue?«
Weil du anders bist als ich.
»Ich war schon einmal wach, nicht wahr?«
»Ein-, zweimal. Aber nie wirklich bei Bewusstsein. Du hast im Schlaf gemurmelt, aber ich habe nichts verstanden. Ich glaube, das war auch besser so.«
Ihre Worte erinnerten ihn an die Träume, die in einem rauschenden Strom aus Strudeln und beißender Gischt zu ihm gekommen waren. An verzerrte Szenen, bei denen er plötzlich Zuschauer gewesen war, obwohl er selbst einst die Hauptrolle gespielt hatte. Er hatte Kämpfe gesehen, einen von Folter zerstörten Körper, Knochen, die aus der Haut ragten, eine alte Frau, die ihn verfluchte, voller Ohnmacht angesichts dessen, was er ihrem Enkel antat. Oder waren das gar nicht seine Hände, die ein glühendes Messer an eine Wange hielten, ein Messer wie jenes, mit dem Sumelis seine Wunden ausgebrannt hatte? Die glühende Spitze spiegelte sich in Augen, die grau waren, nicht zuließen, dass ein Wimpernschlag vergängliche Erleichterung brachte. Waren das seine Augen? Er wusste es nicht; sie schienen ihm fremd. Danach hatten die Träume sich verändert, waren ruhiger geworden, schmerzloser, wie er meinte, ohne sich dessen gewiss zu sein. Da waren Frauen gewesen, mit denen er geschlafen hatte: Eine, die ihm sagte, dass sie sein Kind erwartete, und gestorben war, bevor sie es gebären konnte; eine andere, die brüllend ein Baby entband, das nur zwei Monate lebte. Eine dritte, die die erste war, ein Mädchen, so zart, dass sein Mund kaum um Nandos Glied gepasst hatte, als es ihm lächelnd seine Jungfräulichkeit nahm, um später weinend zuzusehen, wie er mit einer anderen davonging. Nando war sicher, dass sie nicht lange geweint hatte. Noch sicherer wusste er jedoch, dass keine dieser Frauen wie Sumelis gewesen war. Keine von ihnen wäre geblieben.
Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen. Irgendetwas gab es hier, was er nicht verstand, was sich seiner Kontrolle entzog. Um sich selbst abzulenken, fragte er: »Wer hat dir beigebracht, so einen Unterstand zu bauen?«
»Mein Vater.«
»Weshalb sollte er das tun?«
»Meine Mutter bat ihn, es mir zu zeigen.«
»Und wie kommt sie auf diese Idee? Die Tochter eines vindelikischen Fürsten, die sich doch auf weichste Pelze und kostbarste Stoffe betten kann?«
»Es hat Zeiten gegeben, da war sie nicht Carans Tochter. Sie hat sogar einmal monatelang auf der Straße gelebt, schwanger mit mir. Später sind wir in den Norden gezogen, und wo ist dort der Schutz Carans? Ich glaube, sie traute dem Volk meines Vaters nicht, dass es sie beschützen würde, sollte meinem Vater etwas geschehen.«
»Du hättest das Misstrauen deiner Mutter besser erben sollen«, bemerkte Nando. »Dann wärst du geflohen und hättest mich den Tollgeistern überlassen.«
Sumelis schwieg.
»Was hat dir dein Vater noch beigebracht?«
»Fallenstellen.«
Sie machte eine Kopfbewegung nach rechts. Nando musste den Kopf halb aus dem Unterstand strecken, um ihrem Nicken folgen zu können. Ein gehäuteter Hase hing, von zwei Wespen umschwirrt, wenige
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