Der Fluch der falschen Frage
entlanggerollt war. » Hallo?«, rief ich, aber als Antwort kamen nur Schreie. Sie klangen jetzt lauter als vorher, und ich sah auch, warum. Die schwere Eingangstür hing schief in den Angeln wie ein brutal ausgekugelter Arm. Es erinnerte mich an ein weiteres Fach, in dem ich nie gut gewesen war.
In etwas anderem allerdings war ich sogar sehr gut: darin, mich erst später zu fürchten anstatt gleich. Das ist schwer zu lernen, aber ich hatte es gelernt. Der Trick besteht darin, seine Angst beiseitezuschieben wie das Gemüse auf dem Teller, das man nicht anrühren will, ehe alles Hühnchen und aller Reis aufgegessen sind, und sie für eine Zeit aufzuheben, wenn man außer Gefahr ist. Manchmal denke ich, ich werde mich mein ganzes restliches Leben fürchten müssen, so viel Angst habe ich noch aus Schwarz-aus-dem-Meer übrig. Ich ging voran ins Haus, Moxie folgte. Die Schreie schienen von überall her zu kommen; die ganze lange, leere Eingangshalle hallte davon wider. Gestern hatte hier ein Läufer gelegen, bildete ich mir ein, aber ich hatte nicht gut genug aufgepasst. Jetzt war der Boden nackt.
» Das Haus ist zu groß«, sagte ich. » Wir müssen uns aufteilen.«
» Soll ich sie etwa allein finden?«, fragte Moxie.
» Fürchten kannst du dich auch später«, rief ich ihr zu und rannte den Gang entlang und eine breite Treppe hinauf. Unter dem Geländer mussten einmal Blumentöpfe gestanden haben, das sah man an den Ringen auf dem Boden. Jetzt waren die Töpfe verschwunden. Alles schien verschwunden zu sein. Über der Treppe baumelte eine einzelne Glühbirne von der Decke. Konnte sich die Familie Sallis keinen Kronleuchter leisten?
Die Schreie gellten hier oben entschieden lauter. Die Treppe mündete in einen Korridor, auch er ohne Teppiche oder Möbel, nur mit Reihen von Türen zu beiden Seiten. Die erste Tür führte in ein Zimmer mit nichts darin. Die zweite genauso. Als Drittes kam eine Besenkammer, als Viertes ein Badezimmer und danach noch drei Räume, aber in keinem fand ich eine Menschenseele oder auch nur das kleinste Möbelstück. Das Mobiliar unten in der Bibliothek, erinnerte ich mich, hatte nicht recht zu dem Raum gepasst. Es musste in aller Eile zusammengewürfelt worden sein, damit Theodora und ich das Haus für bewohnt hielten.
Die Tür ganz am Ende des Korridors ging nicht gleich auf, weil ich mir erst wieder sagen musste, dass ich mich auch später noch fürchten konnte, am besten, wenn ich erwachsen war. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Der einzige Gegenstand in dem Raum war eine Matratze, die auf dem blanken Boden lag mit einem unordentlichen Haufen Bettzeug darauf. Ich rupfte es auseinander. Nichts. Aber warum hörst du die Schreie dann immer noch, Snicket? Es dauerte einen Moment, dann begriff ich, dass sie aus einem kleinen Gitter an der Zimmerdecke drangen, einem Heizungsgitter vermutlich. Deshalb schienen die Schreie auch überall zu sein: Jedes Zimmer im Haus besaß so ein Gitter. Und die Gitter waren alle mit der Heizung verbunden. Es ertönte noch ein anderes Geräusch durch das Gitter. Erst klang es wie das Zischeln des Klausterwaldes. Die meisten Häuser haben ihre Heizung im Keller.
Ich rannte die Treppe wieder hinunter durch ein kahles Wohnzimmer, in dem riesige Fensterflächen einen Blick auf die seltsame Aussicht boten, und eine Küche, in der sich weder Kühlschrank noch Herd befanden, nur eine Stange ohne Töpfe oder Pfannen daran. Moxie hatte schneller geschaltet als ich und stemmte sich schon gegen eine kleine weiße Tür. Ich eilte ihr zu Hilfe. Die Tür leistete Widerstand, als würde jemand auf der anderen Seite sie zuhalten, aber schließlich schafften Moxie und ich es doch. Dahinter war niemand, nur ein Stein etwa von der Größe eines vernünftigen Lexikons, der von der Kellertreppe her gegen die Tür geschoben worden war. Wir standen auf der obersten Stufe und sahen hinunter auf etwas, vor dem wir uns später noch lange würden fürchten können.
Der Keller des Herrenhauses war gewaltig, so groß wie ein gigantisches Schwimmbecken oder ein kleiner See, und wie ein gigantisches Schwimmbecken oder ein kleiner See war auch er voll mit Wasser. Eine strudelnde braune Flut schlug gegen die Kellerwände und stieg uns langsam die Stufen empor entgegen. Im ersten Moment wirkte es, als würde der Kopf von Mrs Murphy Sallis mitten auf dem Wasser treiben mit verbundenen Augen und aufgerissenem Mund. Aber dann machte ich mir klar, dass sie an etwas festgebunden sein
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