Der Fluch der Halblinge
dahin, konnte kaum mit den langen Beinen des Menschen mithalten. Tuagh kümmerte sich nicht um ihn, er ging in raumgreifenden Schritten dahin und schien gar vergessen zu haben, dass er einen Begleiter hatte.
Es war unvorstellbar, wie viele Gassen, Wege, Gässchen und Straßen diese Stadt besaß. War Sìthbaile ein Labyrinth, dem niemand mehr entrinnen konnte? Fionn hatte das Gefühl, dass sie die ganze Zeit im Kreis liefen, obwohl ihm kein einziges Haus bekannt vorkam – oder im Grunde alle; es schien im Dunkeln nämlich, als ob es keine Unterschiede mehr gäbe.
Sie begegneten weiterhin niemandem, die ganze Stadt schien schlafen gegangen zu sein, vielleicht bedingt durch die Jagd des heutigen Tages. Es mochte nicht allen gefallen, spätnachts von einer Patrouille aufgegriffen zu werden. Nur weit entfernt waren ein paar Geräusche zu hören – das Grölen eines Betrunkenen, den seine Frau wohl nicht ins Haus ließ, das Heulen eines Hundes, das Geschrei eines Säuglings. Hier, wo sie entlang kamen, waren alle Läden geschlossen und die Lichter erloschen, selbst von den mit Öl gefüllten Straßenlampen brannten nur noch wenige.
Tuagh blieb so abrupt stehen, dass Fionn ungebremst in ihn hineinlief und hingefallen wäre, hätte der große Mann ihn nicht aufgefangen.
»Gleich ist es überstanden«, sagte er leise. Sie stiegen die seitliche Außentreppe eines Fachwerkhauses hinauf, und der Wanderkrieger pochte oben in einem bestimmten Rhythmus an die Tür. Es dauerte eine Weile, dann hörte Fionn innen leise Geräusche – und jemand klopfte zurück. Tuagh gab noch einmal ein Zeichen, und schon wurde die Tür aufgerissen.
Fionn erblickte eine verschlafene Menschenfrau um die Dreißig. Sie hatte lange blonde Haare, die unter einer Haube hervorquollen, trug ein langes, dicht gewebtes Nachthemd und hielt einen Untersatz mit einer brennenden Kerze in der Hand.
»Kommt herein, schnell«, wisperte sie, nach draußen sichernd. Tuagh schob Fionn vor sich her, und sie schlüpften hinein.
»Tuagh«, begrüßte ihn die Frau, »ist alles in Ordnung?« Dann fiel ihr Blick auf den Bogin. »Ach, ich verstehe«, fuhr sie fort. »Ihr braucht ein sicheres Quartier für die Nacht.«
Der Wanderkrieger nickte. »Mir fiel niemand sonst in der Nähe ein, Bethana, und der Junge konnte es gerade noch bis hierher schaffen.«
Die junge Frau blickte auf Fionns Füße, und er sah ebenfalls hinunter. Schmutz und Blut vermischten sich zu einer dicken Kruste, sie waren geschwollen und geschunden. »Du armer Junge, es ist ein Wunder, dass du es so bis hierher geschafft hast. Komm mit mir … Wie heißt du?«
»Fionn Hellhaar.«
»Komm mit mir, Fionn Hellhaar. Es ist noch etwas warmes Wasser im Kessel. Aber sei leise, meine Familie schläft, sie muss es nicht erfahren.«
Die Familie musste einen hervorragenden, sehr tiefen Schlaf haben, um nichts mitzubekommen, dachte Fionn bei sich, doch er war dankbar für die Fürsorge, die ihm zuteil wurde. Bethana bereitete ihm ein Bad zu, gab ihm Seife und Trockentücher und eine Heilsalbe für seine Füße. Sie versprach, nach Kleidung zu suchen. »Die Sachen meines Sohnes müssten dir passen, aber Schuhwerk … da werde ich bei meinem Mann schauen müssen. Du brauchst Stiefel, nicht wahr? Aber ja, sicher.« Für feine Schuhe waren Boginfüße nicht geeignet, das stimmte. »Hast du Hunger? Durst?«
»Nein, Tuagh hat dafür gesorgt …«
»Gut. Wenn du fertig bist, geh einfach durch diese Tür nach nebenan, da findest du ein Bett. Du kannst unbesorgt schlafen.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Eine Frage noch, Herrin …«
»Bethana. Du kannst mich Bethana nennen. In diesem Haus gibt es keine Sklaven.«
Fionn konnte sich nur immer mehr wundern. Bei einem Wanderkrieger sah er diese Einstellung ja noch ein. Doch bei einer Städterin? »Aber ich bin ein Bogin, und …«
»Du bist ein Bogin. Und Ende. Und nun frag.«
»Bitte verzeih, aber … warum?«
Bethana lächelte kurz. »Tuagh hat meine Familie gerettet«, antwortete sie. »Ich stehe auf ewig in seiner Schuld, und was immer er braucht, wird er von mir erhalten.«
Fionn erwachte, als die Sonne längst aufgegangen war und in Streifen durch die halb geschlossenen Läden hereinfiel. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war, doch dann kamen die Erinnerungen mit einem Schlag. Still lag er auf dem Rücken und konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu beruhigen und der Panik nicht nachzugeben.
Ich lebe. Und es war kein Traum.
Bevor er weiterdenken
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