Der Fluch der Hebamme
Elfrieda war die Witwe eines Häuers, deren Verwandte sie aufgenommen hatten und die an den Scheidebänken arbeitete. Sie musste schon vor Sonnenaufgang gewartet haben, bis das Stadttor geöffnet wurde, denn die Siedlung der Bergleute lag vor den Toren der Stadt. Und beim Anblick der verzweifelten Alten erriet Marthe sofort, wer ihre Hilfe benötigte: Elfriedas Nichte Bertha, die Häuerstochter, die geschändet worden war und deren Vater vergeblich um ein Wergeld gebeten hatte.
Ungeduldig half Marthe der Witwe hoch und bedrängte sie mit Fragen. Das Kind kam nicht nur früher als erwartet. Wie Marthe nun bestürzt hörte, lag Bertha schon den dritten Tag in den Wehen.
»Warum habt ihr mich nicht eher geholt?«, fragte sie fassungslos. Wenn das Kind immer noch nicht auf der Welt war, stimmte etwas nicht bei dieser Geburt. Doch nach drei Tagen voller Schmerzen war die Kreißende wahrscheinlich so schwach, dass es fraglich war, ob überhaupt noch jemand etwas für sie tun konnte.
»Wir haben es nicht gewagt, Euch damit zu behelligen, Herrin«, antwortete die Alte und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel Tränen vom verschmierten Gesicht. »Unsere Kate ist zu armselig … Und in der Nacht hätte keiner jemanden wie mich in die Stadt eingelassen …«
Am liebsten hätte Marthe aufgeschrien. »Habe ich jemals einen Kranken oder eine Gebärende im Stich gelassen?«, fuhr sie die Frau an.
Selbst wer die frühen Tage von Christiansdorf nicht miterlebt hatte, musste wissen, dass sie einst zu den Ärmsten gehörte und ihre Arbeit als Wehmutter und Heilerin auch tat, wenn die Hilfesuchenden sie nicht bezahlen konnten.
»Der Vater hat’s verboten«, gestand Elfrieda unter Marthes strengem Blick und bekreuzigte sich. »Weil sie eine Sünderin ist … Aber ich hab es nicht mehr ausgehalten, zuzusehen, wie das Mädchen verreckt, und hab so lange gebettelt, bis ich Euch holen durfte. Schlimm genug, was meiner Nichte widerfahren ist.«
Das dachte auch Marthe, während sie die Hände zu Fäusten ballte. Nun wurde Bertha noch einmal bestraft, zusätzlich zu der Gewalttat, und würde am Ende vielleicht sterben.
Mit einem Blick verabschiedete sich Marthe von Lukas, der die Witwe immer noch misstrauisch anschaute, als könnte seiner Frau von ihr Gefahr drohen.
Unter Peters Führung hasteten sie in der Kühle des Maimorgens durch die fast menschenleeren Gassen, passierten das Stadttor und betraten die Siedlung der Bergleute.
Die »Sächsstadt« lag vor den Toren Freibergs auf einer Anhöhe, die von Gruben durchzogen war. Zwischen Huthäusern, Haspeln und Scheidebänken standen die Katen der Häuer, meist schief und niedrig, mit einem winzigen Gärtchen und da und dort einer Ziege vor dem Haus.
Aus der kleinen hölzernen Kirche kam ihnen eine Gruppe Bergleute entgegen, die vor dem Einfahren um Gottes Beistand bei ihrer gefährlichen Arbeit gebetet hatten.
An den Scheidebänken waren Frauen und Kinder schon dabei, das Erz zu zertrümmern, damit es in den Schmelzhütten verarbeitet werden konnte. Müde und frierend hämmerten sie und schauten kaum hoch, als die kleine Gruppe an ihnen vorbeilief.
Die Alte führte sie in eine windschiefe Hütte ganz am Rande der Siedlung. Zwar waren einige Bergleute in Freiberg zu Reichtum gekommen, aber diese Familie litt Not, weil der Hausvater in einer Grube arbeitete, die kaum das Nötigste zum Leben abwarf, nachdem die ersten, ergiebigen Gänge abgebaut worden waren.
Vor dem löchrigen Zaun aus Weidengeflecht, der das Haus umgab, hockten zwei Kinder, die noch zu klein waren, um an den Scheidebänken oder in den Gruben zu arbeiten.
Das ältere von ihnen – vielleicht fünf – sah auf und wischte sich die triefende Nase am Ärmel ab. »Unsere Schwester ist tot«, schniefte er. »Pater Sebastian ist bei ihr, aber er sagt, sie muss in die Hölle …«
Marthe zuckte zusammen. Kam sie zu spät?
Und hatte etwa nicht Berthas Vater, sondern der Pater verboten, sie zu Hilfe zu rufen? Bertha zum Tode
und
zu ewiger Verdammnis verurteilt? Dann war er noch grausamer, als sie je gedacht hatte.
Am liebsten wäre sie sofort umgekehrt. Doch zuerst musste sie nachsehen, ob sie hier wirklich nichts mehr ausrichten konnte.
Trotz ihrer zierlichen Gestalt musste sie sich ducken, um durch die niedrige Tür zu treten. Noch bevor sich ihre Augen an die Dunkelheit im Innern gewöhnt hatten, sagte ihr ein allzu bekannter säuerlicher Geruch, wer sie hier am Lager der Kreißenden erwartete.
Pater
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