Der Fluch der Hebamme
Sebastian hatte es sich seit ihrer ersten Begegnung zum Ziel gemacht, der Christiansdorfer Wehmutter heidnischen Zauber und Aberglauben nachzuweisen. Später hatte der Meißner Bischof angewiesen, dass Marthe ihrer Arbeit nur unter Pater Sebastians Aufsicht weiter nachgehen durfte. Und beide warteten sie begierig darauf, ihr etwas anlasten zu können. Deshalb hatte Christian eine kleine Kapelle in seinem Haus errichten lassen und einen Kaplan aufgenommen, bei dem Marthe die Beichte ablegen konnte.
Jetzt stand der dürre Pater auf, um ihr den Weg zum Bett zu versperren. Der Gestank seiner Kleider nahm ihr beinahe den Atem. Ein Blick zur Seite sagte Marthe, dass das Kind noch in Berthas Leib steckte, der in ein Leichentuch gehüllt war.
»Die Sünderin ist tot und schmort im Höllenfeuer. Hol das Balg aus ihr raus, damit es getauft und seine Seele gerettet werden kann!«, befahl Sebastian harsch.
Marthe senkte die Lider, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen und ihr Entsetzen und ihren Widerwillen zu verbergen. Wie konnte der Pater Bertha nur die Schuld an dem geben, was ihr geschehen war, und ihr die Sterbesakramente verweigern!?
Sie trat zum Kopfende der Schlafstatt, stellte den Korb ab und hockte sich auf den schmutzigen Boden. Dann schlug sie das Tuch etwas zurück und legte ihre Hand an den Hals des Mädchens.
»Sie lebt noch!«, rief sie mit aufflackernder Hoffnung, als sie einen ganz schwachen Pulsschlag spürte.
»Das spielt keine Rolle mehr«, fauchte der Pater zurück. »Ob der Herr sie nun auf der Stelle oder bei ihrem nächsten Atemzug zu sich beruft – sie ist eine Sünderin und ewige Verdammnis ihre gerechte Strafe. Für
solche
Missetaten straft Gott uns mit dem Verlust Jerusalems! Wir alle müssen Buße tun. Also hol sofort das Kind aus ihr! Sonst lasse ich den Schlachter holen, der es herausschneidet. Oder willst du die unschuldige Seele den Mächten des Bösen überlassen?«
Marthe begriff, dass sie nun endgültig in der Falle saß.
Die kirchliche Lehre besagte, dass das Leben des Säuglings Vorrang vor dem der Mutter hatte, weil dessen Seele unweigerlich der Verdammnis anheimfallen würde, wenn er ungetauft blieb.
Doch sie konnte Bertha nicht einfach sterben lassen, ohne wenigstens zu versuchen, ihr zu helfen. Wenn allerdings bei dem, was sie vorhatte, die Gebärende überlebte und das Kind starb – vielleicht war es bereits tot nach solch langen Wehen –, hätte Sebastian endlich einen Grund, sie vor das Kirchengericht zu bringen. Diesmal wäre ihr als rückfälliger Sünderin der Scheiterhaufen sicher.
Doch in einem hatte der Pater recht: Das Kind musste schnell auf die Welt.
»Wie Ihr wünscht«, sagte sie, sprach ein Gebet und griff nach dem unteren Zipfel des Tuches, das den reglosen Frauenkörper bedeckte, als wollte sie den schwangeren Leib entblößen. Dann hielt sie mitten in der Bewegung inne.
»Ihr werdet doch nicht dabei sein und diesen anstößigen Anblick ertragen wollen?«, fragte sie mit gespielter Verwunderung.
Wie erwartet hastete der Pater hinaus.
Prüfend sah Marthe zu den beiden Frauen, die an der Wand kauerten – offensichtlich Gevatterinnen aus der Nachbarschaft, die entweder bei der Geburt zugegen sein oder Bertha schon ins Leichentuch einnähen sollten.
»Geht zusammen mit dem Pater in die Kirche und betet für die Seelen beider«, wies sie die Frauen an, die keinen Widerspruch erhoben und sofort den dunklen, stickigen Raum verließen.
Marthe wartete, bis sie die windschiefe Tür hinter sich zugezogen hatten, dann winkte sie Elfrieda heran.
»Nimm die Hände deiner Nichte und reibe sie, bis sie warm werden!«
Während die Alte sofort gehorchte, tastete Marthe den Leib der Schwangeren ab. Das Kind lag falsch herum, mit dem Steiß nach vorn. Gewiss war die Geburt deshalb nicht mehr vorangeschritten.
Aber in der jetzigen Notlage war dies noch die bessere der möglichen Erklärungen. Wenn das Kind feststeckte, weil der Kopf zu groß war, wie es vor ein paar Jahren ihrer Stieftochter Marie ergangen war, konnte sie gar nichts tun. Dann würden sie die Mutter und ihr ungeborenes Kind zusammen begraben müssen, und sie selbst musste sich vor dem Bischof verantworten.
Unter anderen Umständen hätte Marthe versucht, das Kind durch vorsichtigen Druck von außen in die richtige Lage zu bringen. Aber dazu blieb keine Zeit; dafür war die Kreißende dem Tode schon zu nahe. Ganz abgesehen von der grausigen Drohung Sebastians, das Kind mit dem
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