Der Fluch der Hebamme
gemeinsames Kind mit Marthe. Zu ihrem Hausstand gehörte außer dem Kaplan Hilbert und dem Gesinde noch Lukas’ Knappe, der älteste Sohn seines Bruders Jakob. Doch der Junge war zu seiner kranken Mutter gerufen worden.
Als Lukas nach Ende seines Dienstes auf der Burg nach Hause kam, stand Marthe am Fenster ihrer Kammer. Sie drehte sich zu ihm um, als er eintrat, sein Schwert losgürtete und an die Wand lehnte.
Entgegen aller Gewohnheit waren ihre Hände nicht mit einer Flickerei, dem Zerpflücken von Kräutern oder einer anderen Arbeit beschäftigt. Obwohl es gerade erst dämmerte und Kerzen teuer waren – die meisten Menschen benutzten Kienspäne oder rußende Talglichter –, brannte eine Kerze auf dem Tisch. Vom Luftzug der Tür flackerte die Flamme auf und erlosch.
Wortlos nahm Lukas die Kerze vom Tisch und entzündete sie neu. Er wusste, dass seine Frau in düsteren Momenten Trost im warmen Licht suchte.
»Wie verlief das Gespräch mit den Ratsherren?«, fragte sie.
»Wie zu erwarten«, antwortete Lukas und verzog das Gesicht leicht verächtlich. »Sie haben allen Mut zusammengerafft, wie immer Jonas vorgeschoben, damit der seinen Hals riskiert, der Vogt hat sie angebrüllt, bis ihn beinahe der Schlag traf … Und jetzt muss ich mir mit Peters Leuten wieder einmal etwas ausdenken, damit die aufgeschreckten Stadtbürger ihren Kopf aus der Schlinge ziehen können.«
»Erwartest du nicht ein bisschen viel von ihnen?«, fragte Marthe zweifelnd. »Wie sollen sich einfache Leute gegen jemanden behaupten, den Gott über sie gestellt hat?«
»Es sind Ratsherren, die für die Bürger ihrer Stadt eintreten sollen!«, berichtigte Lukas sie scharf. »Und wir beide haben erlebt, wie Knechte und Bauern mehr Rückgrat bewiesen als dieser Feigling von einem Gewandschneider. Erinnere dich an die ersten Jahre von Christiansdorf!«
»Das waren besondere Zeiten«, widersprach sie. »Zeiten, in denen Gottes Ordnung der Welt aus den Fugen schien. Viele von denen, die damals etwas gewagt haben, sind längst tot und begraben …«
Lukas trat neben sie und legte eine Hand an ihre Wange. »Sag, was dich bedrückt«, forderte er sie auf.
Marthe lächelte zurück, zaghaft und müde, dann wies sie hinaus aus dem Fenster.
»Es braut sich etwas zusammen. Nicht nur am Himmel. Jedermann wartet darauf … auf das Unheil, das uns droht, wenn Otto stirbt.«
Lukas zog seine Frau an sich, die immer noch schmal und zerbrechlich war wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Nichts Begehrendes hatte seine Geste in diesem Moment an sich, nur Trost. Sanft umklammerte er sie, strich mit seinen Händen über ihren Rücken, legte die Rechte in ihren Nacken und gab ihr von seiner Wärme ab.
Er schwieg und wartete, weil er spürte, dass sie noch mit sich rang, ob sie aussprechen sollte, was sie bewegte. Schließlich überwand sie sich und sagte, den Blick an ihm vorbei in die Ferne gerichtet: »All die Jahre hatten wir so viel zu kämpfen … Immer wieder und wieder … Ich bin müde … Ich will nicht mehr kämpfen. Ich kann es einfach nicht mehr.«
Nun sah sie ihn geradeheraus an. »Sollten wir nicht besser fortgehen von hier? Um unseretwillen und für unsere Kinder?«
Diese Frage hatte sie schon einmal Christian gestellt, und er hatte abgelehnt – mit tödlichen Folgen.
Sie hat ja recht, dachte Lukas beklommen. Sie hat wirklich genug gelitten. Jede Nacht sehe ich die Narben auf ihrem Körper, jeden Tag spüre ich die Narben auf ihrer Seele. Und dennoch …
»Liebste!«, flüsterte er. »Du weißt, dass ich bis ans Ende der Welt mit dir ziehen würde, wenn es sein muss. Ein Wort, und ich lasse mich von meinem Dienst befreien …«
Dann fasste er sie bei den Schultern und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. »Doch du weißt, warum wir hier sind. Warum wir nicht geflohen sind. Du nicht, ich nicht … und damals auch Christian nicht.«
»Und was hat es uns gebracht?«, erwiderte sie bitter. »Nur Tod und Verderben!«
Verzweifelt versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten, während sich ihre Hände zusammenkrampften. »Ist es nicht schlimm genug, dass Christian sterben musste? Er wollte, dass dies ein friedlicher, gerechter Ort wird. Friedlich wird es hier wohl nie mehr werden. Doch was uns jetzt bevorsteht, wird schlimmer als alles, das uns und diesem Dorf je widerfahren ist. Wie soll ich unsere Kinder schützen? Was ist das für ein Leben, immer in Angst vor dem nächsten Tag?«
»Marthe, du bist nicht
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