Der Fluch der Hebamme
gleißenden Sonne war die fahle Mondsichel, die merkwürdig auf dem Rücken zu liegen schien, die einzige Unterbrechung an diesem makellosen Blau.
Es gibt hier nicht einmal einen Singvogel, dachte Thomas, während er einen Fuß vor den anderen setzte, den steilen Berg hinab, und dabei Radomir am Zügel führte. Sein Rappe war eines der wenigen Tiere, die noch lebten. Doch er ritt ihn schon längst nicht mehr, um dessen Kräfte zu schonen. Auch der Hengst litt unter der glühenden Hitze und dem Wassermangel. Sein Fell war schweißverklebt, darunter zeichneten sich die Rippen ab, aus seinen Nüstern sickerte Blut, und nun fürchtete Thomas bei jedem Schritt, das Tier könnte auf dem steinigen, abschüssigen Pfad stürzen und sich die Beine brechen. Dann bliebe ihm nichts anderes übrig, als ihm den Gnadenstoß zu geben, wie es Roland und viele andere Ritter bei ihren Hengsten hatten tun müssen.
Und selbst wenn es einen Vogel gäbe, würde ich ihn nicht hören, brachte Thomas seinen Gedanken zu Ende. Unter der Kettenhaube und dem Polster hörte er nur sein eigenes Keuchen und den dumpfen Schlag seines Herzens. Es fühlte sich an, als rinne ihm statt Blut eine zähe, klebrige, immer heftiger pochende Masse durch die Adern.
Zehn Schritte vor ihm fing ein Mann zu schreien an und wie von Sinnen umherzuspringen, zog sein Schwert und hieb auf etwas Unsichtbares im Sand ein, während er sich weiter die Seele aus dem Leib brüllte.
Vielleicht hatte er eine Viper gesehen oder einen Skorpion, vielleicht auch nur ein Trugbild. Mit dem letzten Hieb sackte er in die Knie, verharrte und kippte zur Seite, um sich nicht mehr zu rühren.
Sein Nebenmann blieb stehen und murmelte ihm etwas zu, doch als der Gestürzte nicht aufstand, schüttelte er matt und mutlos den Kopf, bekreuzigte sich und ging weiter.
Anfangs hatten sie noch die Gefährten aufgehoben und gestützt, deren Kräfte erschöpft waren. Doch jetzt war jeder Einzelne von ihnen zu schwach dafür.
Wer nicht mehr weiterkonnte, legte sich einfach mit ausgebreiteten Armen auf den Rücken, um als Märtyrer zu sterben.
Was mit den Zurückgelassenen geschah, wurde den Weiterziehenden mit gnadenloser Deutlichkeit vor Augen geführt: In lächerlich geringem Abstand hinter dem entkräfteten Heer ritten die Feinde, schlugen den Sterbenden die Köpfe ab und schleuderten sie in die Reihen derer, die sich unter der brennenden Sonne durch das Ödland schleppten.
Und hoch über ihnen kreisten in rasch wachsender Zahl dunkle Punkte: große, unvorstellbar hässliche Raubvögel mit nackten Hälsen, die sich von Aas ernährten. Vom Fleisch der Toten, die unbestattet blieben.
Das Heer legte nur noch selten Rast ein. Es gab ohnehin kein Wasser, um Menschen und die letzten verbliebenen Pferde zu erfrischen. Und wer von den erschöpften Männern erst einmal lag oder saß, der kam nur schwer wieder auf. Jeden Morgen verabschiedeten sich vollkommen entkräftete Pilger von ihren Gefährten, um zum Sterben zurückzubleiben.
Am Vortag hatten ein paar Reiter der Nachhut aus ihrer Wut und Verzweiflung heraus einen Angriff gegen die Seldschuken geführt, die dem Heer folgten, und bei diesem Angriff starb Friedrich von Hausen, der Minnesänger. Sein abgekämpftes Pferd hatte sich überschlagen, dabei war der Reiter aus dem Sattel gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen.
Vergeblich versuchte Thomas, sich an eines seiner Lieder zu erinnern, an die Schönheit der Frauen, die er besungen hatte. Doch auch das wollte ihm nicht mehr einfallen.
Der abschüssige Pfad verlief nun so schmal und steil, dass sie nur einer hinter dem anderen marschieren konnten. Die Männer vor ihm wichen ein, zwei Schritte zur Seite aus, um nicht auf den Nächsten zu treten, der sich zum Sterben hingelegt hatte.
Gewohnheitsmäßig wollte Thomas ein stummes Gebet für ihn denken, als er erkannte, wer da lag.
O nein, du nicht!, dachte er mit einem Anflug von Bestürzung, Zorn und aufflackerndem Widerspruchsgeist. Nicht der kleine Mönch!
»Du wirst hier nicht sterben, Bruder«, ächzte er drohend zu seiner eigenen Verwunderung; er hätte nicht gedacht, aus seiner ausgedorrten Kehle überhaupt noch einen Ton herauszubringen. Seit Tagen schon sprach kaum jemand ein Wort. Jeder wollte Kraft und Atem sparen.
Er ließ sich neben dem Benediktiner nieder, um ihn sich über die Schulter zu hieven. Er, Roland und auch Rupert waren im Vergleich zu vielen anderen noch jung und kräftig. Rupert hatte schon seit Tagen immer
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