Der Fluch der Hebamme
eingegangen und darf bei Unserem Herrn Jesus weilen. Das ist doch ein tröstlicher Gedanke, oder? Und was uns betrifft … Welcher Ratschluss Gottes dahintersteckt, der uns noch verborgen ist, das finden wir nur heraus, wenn wir weitergehen.«
Sommer 1190 in der Mark Meißen
S eit mehr als drei Monaten schon führte Lukas ein Leben im Verborgenen, und er hätte allen Ernstes nicht sagen können, wie er es geschafft hatte, dabei nicht entdeckt zu werden. Fast die ganze Zeit war er unterwegs, um einen Anhaltspunkt für Marthes Verbleib zu finden. Obwohl ihm der Verstand sagte, dass es kaum noch Hoffnung gab, sie lebend zu finden, wollte er einfach nicht aufgeben. Denn wenn sie tot war, dann durch seine Schuld, durch seine Fehlentscheidung.
Sein erster Weg von Freiberg aus hatte ihn ins Muldental geführt. Nicht geradewegs zu Raimund, das wäre für alle Beteiligten zu gefährlich gewesen. Aber für Notfälle hatte er mit dem Freund ein Zeichen verabredet, ein mit Kreide gemaltes Kreuz auf einem großen Stein an der Grenze seines Dorfes. Dann zog er sich in die Hütte des Wilden Mannes zurück.
Er musste keinen halben Tag warten, bis Raimund sich den Weg durch das Dickicht bahnte und ihn erleichtert in die Arme schloss.
Elisabeth war mit ihm gekommen.
»Du hast eine Enkeltochter«, berichtete ihm Elisabeth freudestrahlend, und Lukas fiel vor Erleichterung ein Stein vom Herzen.
Als Nächstes erfuhr er von seinen Freunden, dass Clara und Daniel von hier aus nach Weißenfels geritten waren, wo Graf Dietrich ihnen vor seinem Aufbruch ins Heilige Land Zuflucht in Notlagen versprochen hatte.
»Wir waren zu Tode erschrocken, als sie und ihr Bruder hier mit der Kleinen ankamen«, erzählte Elisabeth. »Sie hatte es erst vor zwei Tagen zur Welt gebracht, auf der Flucht, mitten im Wald. Ich musste darauf bestehen, dass sie wenigstens ein paar Tage bleiben, damit Clara sich erholt. So kurz nach der Niederkunft konnte sie unmöglich noch weiter, ohne Fieber zu bekommen. Ich habe sie ein wenig aufgepäppelt. Es ist auch so anstrengend genug für sie gewesen, wieder für solch eine Reise in den Sattel zu steigen.«
»Hat niemand hier nach ihnen gesucht?«, wollte Lukas wissen, den der Gedanke zutiefst berührte, dass er nun eine Enkeltochter hatte – genau genommen eine Stiefenkelin. Das machte für ihn keinen Unterschied.
»Elmars Leute haben alles nach dir durchstöbert und waren schwer enttäuscht, dich nicht hier zu finden«, meinte Raimund, während Elisabeth Essen aus einem Korb auspackte. Sie hat wie Marthe diesen Sinn fürs Zweckmäßige, schoss es Lukas dabei durch den Kopf. Er selbst hätte einem Mann in seiner Lage Waffen gebracht und vielleicht etwas, um sich zu verkleiden. Aber die Frauen dachten eben an das Lebensnotwendigste. Dankbar brach er etwas von dem frischen, duftenden Brot ab. Er hatte lange keines mehr gegessen, weil er Siedlungen mied. Unterwegs hatte er von dem Kleinwild gelebt, das er mit seinem Jagdbogen erlegt hatte.
»Daniel hat sich hier in der Hütte verborgen, und Clara habe ich als meine Nichte ausgegeben und ein riesiges Gezeter angefangen, als sie an das Wochenbett wollten«, erzählte Elisabeth lächelnd. »Und da alles, was mit Geburt und anderen Frauendingen zusammenhängt, den Männern unheimlich ist, haben sie sich aus der Wöchnerinnenstube verzogen und lieber weiter nach dir gesucht.«
Wenigstens diese Last war von seinen Schultern genommen!
»Wann sind Clara und Daniel aufgebrochen?«, fragte er.
»Gestern«, berichtete Raimund. »Sei unbesorgt, wir haben ihnen ein paar zuverlässige Männer als Geleitschutz mitgegeben – und Paul, deinen Ältesten. Mir schien die Gefahr zu groß, dass sich Albrecht doch noch an ihn erinnert und ihn an deiner statt umbringen lässt. In ein paar Tagen müssten meine Leute zurück sein. So erfahren wir, ob deine Kinder und deine Enkeltochter heil und gesund auf Dietrichs Burg angekommen sind.«
»Ich sollte ihnen nachreiten. Aber zuerst muss ich Marthe finden. Weißt du, wo sie sein könnte?«, fragte Lukas und schloss für einen Moment die Augen, um sich für eine schlimme Nachricht zu wappnen.
Jäh verdüsterte sich Raimunds Gesicht. »Es gibt keine Spur, nicht den geringsten Anhaltspunkt, gar nichts. Albrecht war zwar rasend vor Zorn über dein Verschwinden. Aber als Marthe sich in Luft aufgelöst zu haben schien, erweckte er den Eindruck, als sei ihm das wirklich unheimlich – noch dazu nach dem Fluch. Zumal er ihr Verschwinden
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