Der Fluch der Hebamme
Vorwürfe genug, sie damals im Stich gelassen zu haben, als ich vom Burgberg floh. Am liebsten würde ich dorthin zurückkehren und jede einzelne Kammer nach ihr durchsuchen.«
»Deine Aussichten wären auch ungeheuer groß, dort hineinzuspazieren und in jeder Kammer nach ihr Ausschau zu halten«, fauchte Raimund zurück. »Du weißt ja nicht einmal, ob sie überhaupt noch in Meißen ist!«
»Wo sonst, wenn nicht irgendwo heimlich verscharrt?«, schrie Lukas. »Du meinst also auch, ich hätte damals gleich nach ihr suchen müssen, bevor ich floh?«
»Unsinn, das hätte für euch beide den Tod bedeutet«, redete ihm der Freund ins Gewissen. »Also hör endlich auf, dich zu bemitleiden und dir Selbstvorwürfe zu machen. Glaubst du etwa, Elisabeth und ich machen uns keine Sorgen um sie? Wir können dir auch Nachricht nach Eisenach schicken, wenn wir etwas erfahren. Du musst endlich aufhören, wie ein Gesetzloser zu leben. Du bist ein Ritter!«
»Ich verlasse die Mark nicht, bevor ich etwas weiß. Und wenn wir sie irgendwo raushauen müssen, will ich selbst das Kommando führen.« Lukas’ Tonfall und Miene ließen keinen Zweifel daran, dass das Gespräch für ihn beendet war.
Raimund gab es auf, den verbitterten Freund umstimmen zu wollen. Also ging er früher als sonst und überließ Lukas seinen finsteren Grübeleien.
Es war noch kein halber Tag vergangen, als Raimund zurückkam, diesmal in Begleitung der freudestrahlenden Elisabeth. Sie ließen dem Freund erst gar keine Zeit, darüber nachzudenken, was dieser erneute Besuch wohl zu bedeuten hatte.
»Es gibt vielleicht eine Spur!«, jubelte Elisabeth. »Guntram hat von Pater Hilbert erfahren, dass im bischöflichen Palas darüber gewispert wird, der Dompropst habe eine neue Geliebte.«
Lukas konnte nicht erkennen, was das mit ihm oder seiner Frau zu tun haben könnte. Dass sich die hohen Geistlichen Geliebte hielten, war trotz ihres Standes nichts Außergewöhnliches. Allerdings war Dittrich von Kittlitz schon Mitte sechzig, aber auch das musste nichts zu sagen haben. Doch eingedenk des nur ein paar Stunden zurückliegenden Streites mit Raimund schwieg er vorsichtshalber und hörte sich erst einmal an, was die beiden zu sagen hatten. Es half ihm nicht weiter, wenn er die letzten paar Getreuen, die noch zu ihm hielten und ihm helfen wollten, vor den Kopf stieß.
»Die Leute munkeln, dass sie entweder besonders hübsch oder besonders hässlich sein müsse, denn er halte sie vollkommen unter Verschluss«, erzählte Elisabeth aufgeregt weiter. »Niemand bekommt sie zu Gesicht. Nur einer seiner Leibdiener, der stumm und taub ist, darf ihr Essen und Trinken durch einen schmalen Spalt an der Tür abstellen, ohne sie zu sehen, und muss danach sofort wieder gehen und die Tür verriegeln. Doch der Propst gehe des Nachts öfter in ihre Kammer und verbringe viel Zeit dort. Vater Hilbert hat sich unter den Schreibern etwas genauer umgehört und kam zu dem Schluss, dass die geheimnisvolle Geliebte fast zur gleichen Zeit auftauchte, als Marthe verschwand. Er ist sicher, dass sie es ist, die in der Kammer gefangen gehalten wird.«
Nun leuchteten Elisabeths Augen, und die Art, wie sie Lukas anstrahlte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie einen frohen oder zumindest erleichterten Ausruf von ihm erwartete.
Stattdessen starrte Lukas sie an, hieb mit der Faust gegen eines der morschen Bretter, dass es zerbarst, und brüllte fassungslos vor Wut: »Sie ist jetzt also die Hure dieses alten Bockes? Und darüber soll ich froh sein? Gibt es überhaupt noch irgendeinen Schurken in der Mark, der nicht auf ihr gelegen hat?«
Wütend sprang er auf und stürmte hinaus. Dabei warf er die windschiefe Tür so heftig hinter sich zu, dass eine der ledernen Angeln zerriss.
Kaum weniger wütend stand Elisabeth auf, um ihm nachzugehen. Raimund wollte sie aufhalten; der Freund war jetzt in sehr gefährlicher Stimmung und allmählich unberechenbar. Doch Elisabeth ließ sich nicht aufhalten, sondern stürmte ebenfalls nach draußen und baute sich vor Lukas auf, der absichtlich mit dem Rücken zur Hütte an einem Baum lehnte und mit verschränkten Armen finster ins Nichts starrte.
»Hast du vollkommen den Verstand verloren?«, fragte sie drohend und stemmte die Arme in die Hüften. »Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich auf der Stelle mit dir schlagen!«
Hilfesuchend warf sie einen Blick zu Raimund, ob er wohl an ihrer Stelle einspringen würde, aber der schien eher zu hoffen, dass seine
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