Der Fluch der Hebamme
auch niemand sonst, mit dem sie je gerechnet hatte.
»Pater Hilbert!«, brachte sie fassungslos hervor und schaffte es gerade noch, ihre Stimme zu dämpfen. »Der Herr sei gepriesen!«
»Vor allem, da Ihr wirklich noch lebt, meine Tochter«, sagte der Kaplan freudestrahlend. Er trug eine handliche Truhe, in deren Deckel Aussparungen für Tintenfass und Federkiel eingearbeitet waren, und noch ehe Marthe überlegen konnte, was das zu bedeuten hatte, zog er beides heraus und klappte die Truhe auf. Er entnahm ihr die Ordenskleidung eines Zisterziensers und reichte sie Marthe.
»Zieht das an, und dann spazieren wir beide ganz gemächlich hinaus«, sagte er frohgelaunt, obwohl sich Marthe darüber im Klaren war, dass diese Tat sein Leben und sein Seelenheil in beträchtliche Gefahr bringen würde. Aber er schien so zuversichtlich, dass sie erst gar keine Fragen stellte.
»Ähm … Ihr müsst das Kleid und die Schuhe ausziehen«, sagte er verlegen und drehte sich mit dem Rücken zu ihr.
Rasch entledigte sich Marthe des Schleiers, des Bliauts, der Schuhe und Beinlinge und zog sich die Mönchskleidung über das Untergewand. Den Zopf drehte sie zu einem Knoten zusammen. Dass sie barfuß ging, würde bei einem Mönch nicht weiter auffallen.
»Ich bin fertig«, sagte sie, immer noch fassungslos vor Überraschung.
Gemeinsam stopften sie in aller Eile Kleid, Schuhe und Schleier in die Kiste und legten Tintenfässchen und Federkiel wieder in die Vertiefungen auf dem Deckel.
Hilbert gab ihr einen groben Strick als Gürtel, zog ihr die Kapuze noch tiefer ins Gesicht und drückte ihr ein schmales Buch mit abgegriffenem Ledereinband und fein gearbeiteten Beschlägen in die Hand.
»Immer schön den Kopf gesenkt halten und einen halben Schritt hinter mir bleiben!«, ermahnte er sie. »Wenn uns jemand anspricht, überlasst mir das Reden, denn der junge Bruder neben mir hat gerade ein Schweigegelübde abgelegt.«
Das kam Marthe sehr entgegen; angesichts dieser überraschenden Wendung war sie ziemlich sprachlos, und außerdem durfte sie keinerlei Verdacht erwecken durch ihre helle Stimme.
Sie hielt den Kopf tief gesenkt und starrte auf ihre nackten Zehen, die bei jedem Schritt unter dem reichlich langen Skapulier hervorlugten. Das Gewand hatte sie mit dem Gürtel nach oben gebauscht, was nicht nur verhinderte, dass sie über den Saum stolperte, sondern auch ihre weiblichen Rundungen verbarg.
Nicht einen Blick wagte sie nach oben, als sie den Burghof überquerten, starrte nur auf den Boden und ihre Füße.
Als sie das Burgtor erreichten, glaubte sie, ihr Herz würde so laut hämmern, dass die Wachen schon deshalb misstrauisch werden müssten.
»Du hast wohl in der Stadt zu tun, Bruder?«, fragte einer der Männer am Tor. Marthe kannte seine Stimme und senkte den Kopf noch tiefer.
»Ja, es geht um ein paar Lieferungen, die wir bei den Juden bestellen müssen«, entgegnete Pater Hilbert gelassen. »Weihrauch und Ölbaumholz für einen neuen Seitenaltar. Dergleichen muss vertraglich aufgesetzt werden.«
»Gib mir deinen Segen, Bruder«, bat der andere. »Mein Weib ist in den Wochen, und letztes Mal kam das Kind tot zur Welt. Ich bete schon Tag für Tag, dass es diesmal glücklich für beide ausgeht.«
»Wenn du reinen Herzens betest, wird sich der Herr ihrer erbarmen«, erwiderte Pater Hilbert voll ehrlicher Überzeugung und schlug ein Kreuz über den gesenkten Kopf des Mannes, der sich dafür bedankte.
Das Unglaubliche geschah; sie schritten durch das Burgtor, ohne aufgehalten zu werden; sie liefen die schmalen Gassen Meißens hinab, ohne dass jemand von ihnen Kenntnis zu nehmen schien, und verließen die Stadt.
Marthe war immer noch so überrascht und zugleich voller Angst, sie könnte sie beide verraten, dass sie den ganzen Weg über kein Wort sprach, sondern nur weiter stumm und mit gesenktem Kopf einen Fuß vor den anderen setzte.
Nachdem sie durch den Unrat der Straßen gewatet waren, liefen sie über einen steinigen Weg, bis sie einen grünen Pfad erreichten, dessen Gras ihre Füße liebevoll streichelte.
Langsam, ganz langsam erwachte in ihr der Gedanke, dass sie vielleicht frei war. Aber wohin würden sie gehen, und was würde sie dort erwarten? Aus Angst vor schlechten Nachrichten wagte sie es immer noch nicht, zu fragen.
»Gott zum Gruß, ihr frommen Brüder!«, ertönte eine wohlbekannte tiefe Stimme mit unüberhörbarem Hang zum Spotten. »Können wir euch ein Stück des Weges mitnehmen?«
Nun hob Marthe
Weitere Kostenlose Bücher