Der Fluch der Hebamme
»Er wird – nein, er
muss
eingreifen. Es könnte sonst Schule machen, dass sich die Söhne gegen die Väter erheben und damit auch noch durchkommen. Das würde Gottes Ordnung der Welt in Frage stellen.«
Lukas blickte erst zu Marthe, dann zu Raimund und Elisabeth, und Thomas hatte das sichere Gefühl, dass sie sich wortlos verständigten und jeder von den vieren das Gleiche dachte. Er sah, dass seine Mutter noch blasser wurde und sich auf die Lippe biss, seinem Stiefvater aber kaum sichtbar zunickte. Sie sind wirklich Verschworene seit vielen Jahren, dachte er und fragte sich, was seine und Rolands Eltern soeben entschieden hatten. Doch das würde er wohl gleich erfahren.
»Da unsere Söhne ohnehin so schnell wie möglich von hier verschwinden müssen, sollten wir ihnen diese wichtige Aufgabe anvertrauen«, sagte Lukas.
Dann sah er zu Thomas und Roland. »Vorausgesetzt, ihr wollt das wagen. Reitet nach Ungarn und sucht Graf Dietrich! Er ist nicht von Regensburg aus mit dem kaiserlichen Heer aufgebrochen, sondern will sich ihm erst in Pressburg anschließen. Dort wird der Kaiser das Pfingstfest feiern und einen Hoftag halten. Wenn ihr Dietrich verfehlt, reitet weiter.«
Bis ins Heilige Land … Diese Worte schwebten im Raum, ohne dass jemand sie aussprach.
»Thomas ist verletzt, er kann unmöglich morgen schon wieder in den Sattel, auf solch eine weite Reise«, wandte Elisabeth ein.
»Hier darf er nicht bleiben, genauso wenig wie Roland. Sie werden gesucht. Raimund und ich können jetzt nicht fort. Wir müssen Zeit gewinnen für unsere Söhne. Raimund muss auf seinem Gut den Ahnungslosen spielen, und ich muss morgen auf der Burg vor Albrecht antreten, so tun, als wüsste ich nichts von ihrer Gefangennahme und gelungenen Flucht, und ihm den Treueeid schwören.«
Thomas, bis eben noch vollauf mit dem pochenden Schmerz in seinem Gesicht und der Aussicht auf eine Reise zum Kaiser beschäftigt, starrte seinen Stiefvater entgeistert an.
»Das würdet Ihr tun?!« Die Wut in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Lukas verzichtete darauf, Christians Sohn für diesen Ausbruch zurechtzuweisen. Der Junge hatte sich bisher wacker geschlagen, und seine Entrüstung war verständlich – jedenfalls, wenn man jung und die Welt noch leicht in Gut und Böse einzuteilen war.
»Ich fürchte, mir bleibt keine Wahl, Junge, sollte er das fordern. Wenn es nur um mich ginge, ließe ich es darauf ankommen. Aber dann würde sich Albrecht an deiner Mutter, deiner Schwester und deinen Brüdern schadlos halten. Er kann mich auch hinrichten lassen, wenn ich ihm den Eid verweigere.«
Thomas stieß die Luft aus, die er angehalten hatte.
»Denkt Ihr, das würde er wagen?«, fragte er beinahe kleinlaut, abwechselnd zu Lukas und Raimund blickend.
»Hast du etwa Zweifel daran nach dem, was du gerade erlebt hast?«, hielt ihm sein Stiefvater entgegen.
»Von euch hängt jetzt alles ab. Ihr
müsst
den Kaiser erreichen und mit Dietrichs Hilfe bei ihm vorsprechen, bevor er in Pressburg die Regentschaft an seinen Sohn Heinrich überträgt«, sagte Raimund beschwörend. »Womöglich schließt er Albrecht zur Strafe für sein Handeln von der Erbfolge aus. Dann wird Dietrich Markgraf von Meißen.«
Thomas riss die Augen auf. So weit also reichten die Pläne, Verwicklungen und Hoffnungen in dieser Angelegenheit!
Er sollte sich wohl doch lieber von seiner Mutter die schmerzenden Rippen untersuchen lassen, ehe er wieder in den Sattel
stieg.
Verstohlen sah er zu Roland, der sich weit weniger überrascht zeigte als er selbst. Hatte der kluge Freund diese Wendung der Dinge vorausgesehen?
»Bevor wir aufbrechen, muss ich etwas Wichtiges mit Euch besprechen«, sagte Roland mit sehr ernster Miene.
Die Brautwerbung!, dachte Thomas. Meine Schwester. Das hätte ich fast vergessen über alldem …
Doch bevor Roland weiterreden konnte, klopfte es heftig an der Tür.
Marthe fuhr zusammen. Elisabeth stieß vor Schreck ihren Becher um, so dass der Inhalt über die Tischplatte spritzte.
Roland sprang auf und zog sein Schwert, ebenso Raimund; Thomas griff nach seinem Dolch.
Lukas bedeutete ihnen wortlos, sich wieder hinzusetzen, ohne die Waffen aus den Händen zu legen. Auch er zog seinen Dolch, ging zur Tür, öffnete sie erst eine Handbreit und dann ganz, nachdem er gesehen hatte, wer draußen stand.
Reinhard trat ein und ließ seinen Blick über die versammelte Runde schweifen.
»Ihr habt es geschafft, der Herr sei gepriesen!«, rief er
Weitere Kostenlose Bücher